NoisePoesien- zeitkratzer und Keiji Haino in der Jahrhunderthalle Bochum

Im Mai 1968, auf dem Höhepunkt einer persönlichen Krise, schrieb Karlheinz Stockhausen den Zyklus Aus den sieben Tagen. Statt einer konventionellen Partitur verfasste Stockhausen Handlungsanweisungen wie „Spiele einen Ton / Spiele ihn so lange / bist du spürst / daß Du aufhören sollst // Spiele wieder einen Ton / Spiele ihn so lange bist Du spürst daß Du aufhören sollst // und so weiter …“. Mit dieser Form von Textkompositionen, die an vielen Stellen den Einfluss fernöstlicher Spiritualität erkennen lassen, eröffnete Stockhausen den Musikern ein weites Feld für Improvisationen und die Entfaltung ihrer Subjektivität.

Auf eben diesem Feld der intuitiven Musik tummelte sich am 04. September 2011 im Rahmen der Ruhrtriennale das 1997 von dem Pianisten Reinhold Friedl gegründete Ensemble zeitkratzer. Dieses neunköpfige Kollektiv hat sich auf Avantgardemusik sowie die Umformung elektronischer Musik spezialisiert und zählt neben Kompositionen von John Cage und Lou Reed auch Werke von Throbbing Gristle und Whitehouse zu seinem Repertoire. Im Verlauf seines Bestehens gelang es dem Ensemble, eine eigene Form von Crossover zu entwickeln, mit der es die engen Grenzen der sich elitär gebärdenden Neue-Musik-Szene aufbricht und in Kooperationen mit anderen Klangvisionären in neue musikalische Welten vordringt. In Bochum wurden zeitkratzer unterstützt von dem japanischen Multiinstrumentalisten, Performancekünstler und radikalen Vertreter der Noisemusik Keiji Haino, der sich an diesem Abend jedoch ausschließlich auf den Einsatz seiner Stimme beschränkte. Gemeinsam schufen zeitkratzer und Haino eine eindringliche Neuinterpretation einiger Passagen von Aus den sieben Tagen, die mal von zerbrechlich-luftiger Zartheit war und mal eine brachiale Wucht entfaltete, als wollten die Musiker die Mauern der altehrwürdigenden Industriearchitektur zum Einsturz bringen.

Im zweiten Teil des Konzerts präsentierten zeitkratzer und Haino gemeinsam erarbeitete Kompositionen, womit eine Kooperation ihre Fortsetzung fand, die 2005 und 2006 mit Konzerten in Berlin und Wien begonnen hatte. Die präsentierten Werke lassen sich durchaus als zeitgenössische Antwort auf die Arbeiten Stockhausens begreifen. Hatte Haino im ersten Teil des Abends seine Stimme noch eher zurückhaltend eingesetzt und sich vornehmlich auf die Erzeugung sonorer Brummtöne beschränkt, schöpfte er nun seine stimmlichen Möglichkeiten in ihrer ganzen Bandbreite aus. Passend zum diesjährigen Ruhrtriennale-Motto “Urmomente“ lieferte Haino mit seinen Vokaleinlagen die Urlaute, in denen Elemente traditioneller japanischer Musik ebenso nachklingen wie der Gesang buddhistischer Mönche oder die Schreie von Kendokämpfern. Zusammen mit dem von den zeitkratzer-Musikern gewobenen Klangteppich ergab sich ein harmonisches Ganzes von anschwellender Intensität, das über die Zuhörer hereinbrach und mit dem ganzen Körper erfahrbar war. Die von den Veranstaltern vor Konzertbeginn verteilten Ohrenstöpsel konnten dieses Hörerlebnis eigentlich nur schmälern.

Die von zeitkratzer und Keiji Haino dargebotene Interpretation der Werke Karlheinz Stockhausens zeigte deutlich, wie frisch die Kompositionen des Maestros aus Kürten auch über vierzig Jahre nach ihrer Entstehung immer noch klingen. Weit davon entfernt, Produkte einer Avantgarde zu sein, die sich längst überlebt hat und nur noch für musikhistorische Klassifizierungen taugt, tragen sie ein Potential in sich, das es immer wieder neu zu entdecken und zu erhören gilt. Bleibt zu hoffen, dass wir in absehbarer Zeit den gesamten Zyklus Aus den sieben Tagen aus der Werkstatt von zeitkratzer zu hören bekommen.

Foto: Ania Piontek

(M. Boss)

 

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