JAMES GRAHAM BALLARD – Wunder des Lebens (Buch)

Als James Graham Ballard 2009 den Folgen einer Krebserkrankung erlag, verlor die englische Gegenwartsliteratur eine ihrer profiliertesten Stimmen, einen präzise die Gegenwart sezierenden Zeitkritiker, der sich nie mit den Banalitäten alltäglicher Politik aufhielt. Insbesondere in seinen letzten Romanen entwarf Ballard Versuchsanordnungen, mit denen er die Faktoren untersuchte, die die Fassaden der Zivilisation zum Einsturz und die Barbarei wieder zum Vorschein bringen. Leider fand Ballards Spätwerk in Deutschland kaum noch Beachtung, und sein letzter, 2007 erschienener Roman Kingdom Gone wartet immer noch auf eine deutsche Übertragung. Es ist der kleinen Edition Phantasia, eine der letzten verbliebenen Inseln für anspruchsvolle Science Fiction inmitten eines Ozeans kommerzieller Endloszyklen-Massenware zu verdanken, dass Ballards letztes Buch, seine Autobiographie Wunder des Lebens, nun auch für das deutsprachige Publikum greifbar ist.

Der 1930 in Shanghai geborene Ballard erzählt seine Lebensgeschichte in zwei Teilen: Im ersten Abschnitt lässt er seine Kindheits- und Jugendjahre in China noch einmal lebendig werden. Ballard beschwört das Shanghai der 1930er Jahre, einer Stadt voller Geschäftsleute aus aller Welt, Ganoven und Huren, mit Bettlern, die auf der Straße verhungern, umgeben von den exotischen Gerüchen der Garküchen und stinkenden Kloaken, aus denen regelmäßig tödliche Seuchen hervorbrechen. Mitten in diesem pulsierenden Chaos existiert eine englische Parallelgesellschaft, die ihre ganz eigene Form des Merry Old England zelebriert. Während die meisten seiner Landsleute China nur in Form von Dienstboten an sich heranlässt, ist Shanghai für den jungen Ballard ein großer Abenteuerspielplatz, den er mit dem Fahrrad erkundet (während der alte Ballard sich im Rückblick darüber wundert, dass ihm bei seinen Exkursionen nie etwas zugestoßen ist). Stellvertretend für das gesamte britische Empire zerplatzt die koloniale Blase mit der Besetzung Chinas durch die Japaner. Zwar bleibt die britische Enklave in ihrer Lebensweise davon zunächst noch unberührt, doch nach dem Angriff auf Pearl Harbour werden alle Ausländer in Lagern interniert. Ohne zu verklären, beschreibt Ballard diese Jahre als Aufenthalt in einer Art Ferienlager: in der Enge des Schlafsaals kommt er seinen Eltern so nah wie niemals zuvor, lebt in der Welt der Erwachsenen mit sportlichen Wettkämpfen und Vortragsabenden, begegnet Menschen, die er in der abgeschotteten Welt seines Elternhauses niemals kennen gelernt hätte, alles unter den eher gelangweilten Augen der japanischen Wachmannschaften. Schon in seinem von Steven Spielberg verfilmten Roman Das Reich der Sonne hatte Ballard dieser Phase seines Lebens ein literarisches Denkmal gesetzt. An einem Morgen Anfang August 1945 sind die Japaner plötzlich verschwunden, und Ballard macht sich umgehend zu Fuß auf den Weg nach Shanghai. An einem verlassenen Bahnhof trifft er auf eine Gruppe japanischer Soldaten, die mit sadistischem Vergnügen einen Chinesen zu Tode foltern – ein letzter individueller Triumph angesichts der kollektiven Niederlage. In dieser Situation, in der die Regeln des Krieges ihre Gültigkeit verlieren, werden Ballard schlagartig die Gefahren bewusst, die der vermeintliche Frieden birgt, und der Moment des Kriegsendes wird gleichzeitig zum Ende seiner Kindheit.

Der zweite Teil von Wunder des Lebens beginnt mit der Ankunft Ballards in dem für ihn völlig fremden England. Der Siebzehnjährige kommt ohne seine Eltern in ein vom Krieg verwüstetes Land: viele Städte zerstört, die Wirtschaft am Boden, die Menschen ausgelaugt und psychisch deformiert. Er wohnt zunächst bei seinen Großeltern, die ihm immer fremd bleiben werden, und besucht bis 1949 ein Internat in Cambridge. Obwohl er, beseelt von dem Wunsch, Schriftsteller zu werden, eigentlich Literatur studieren wollte, beginnt Ballard auf Wunsch seines Vaters zunächst ein Medizinstudium. Insbesondere im Seziersaal erlernt er jene Techniken, die er in anderer Weise später in seinen literarischen Arbeiten anwenden sollte bei der pathologischen Durchdringung der westlichen Zivilisation und ihrer seelischen Abgründe. Nach zwei Jahren brach er sein Medizinstudium ab und ging an das Londoner Queen Mary College, um englische Literatur zu studieren und in die äußerst lebendige Kunstszene der englischen Hauptstadt abzutauchen. Nebenher schrieb er erste Kurzgeschichten, in denen er versuchte, James Joyces Finnegans Wake und Hemingway gleichermaßen zu übertreffen, ohne dass ihn die Ergebnisse seiner Bemühungen wirklich befriedigten oder gar andere beeindruckten. Erst 1954 sollte Ballard den Schlüssel entdecken, der ihm den Weg zur eigenen literarischen Form eröffnete. Auf der Suche nach neuen Horizonten hatte Ballard sich bei der Royal Air Force verpflichtet, und die Pilotenausbildung führte ihn für einige Monate nach Kanada. Dort stieß er auf die seinerzeit boomende Science-Fiction-Literatur. Statt der typischen Weltraumabenteuer der Space Operas zogen Ballard aber vor allem jene Erzählungen an, die in naher Zukunft auf der Erde spielten und die oft ganz und gar nicht utopischen Entwicklungen der Nachkriegsgesellschaft vorwegnahmen. Nach England zurückgekehrt, quittierte Ballard den Militärdienst und begann, seine eigene Form der Science Fiction zu entwickeln, die, angeregt von Psychoanalyse und Surrealismus, den Inner Space erkunden wollte, um den Verheerungen auf die Spur zu kommen, die Atomzeitalter und Konsumgesellschaft in den Seelen der Menschen angerichtet hatten. Ballard wurde so in den sechziger Jahren zum Mitbegründer der sogenannten New Wave der Science Fiction, die allerdings im weltraumverliebten Fandom nur wenige Anhänger fand.

In den bewegendsten Passagen von Wunder des Lebens berichtet Ballard über die Gründung seiner eigenen kleinen Familie. Er erzählt, wie er seine Frau Mary kennenlernte, die er 1955 heiratete, und ihren drei Kindern, von denen die beiden jüngeren bei Hausgeburten zur Welt kamen, und das ganz bewusst gegen einen Zeitgeist, der nicht nur in England werdenden Vätern den Zugang zum Kreißsaal verwehrte. Da seiner Schriftstellerkarriere zunächst noch die Dynamik fehlte, ernährte Ballard seine Familie durch diverse Brotberufe, indem er sich als Werbetexter oder Herausgeber einer naturwissenschaftlichen Zeitschrift verdingte. Die kleine familiäre Idylle endete jäh 1963, als Mary während eines Spanienurlaubs an den Folgen einer Infektion starb. Ballard fand sich plötzlich in der Rolle des alleinerziehenden Vaters wieder, und das in einer Zeit, als diese Tätigkeit noch nicht allzu verbreitet war. Er tat alles, um seine Familie nicht auseinander brechen zu lassen, und gegen Ende seines Lebens blickt Ballard nicht ohne Stolz auf seine väterlichen Leistungen zurück, betrachtete er doch seine Kinder immer als die eigentlichen Wunder des Lebens.

Auffällig an Wunder des Lebens ist, dass Ballard nur sehr oberflächlich über seine eigenen Werke spricht. Nur dem 1970 erschienene Prosaband Die Schreckensgalerie (2008 als Liebe & Napalm vom Milena Verlag Wien neu aufgelegt) sowie dem Roman Crash aus dem Jahr 1972 widmet er längere Ausführungen, was belegt, welche Bedeutung Ballard den beiden wohl radikalsten und verstörendsten Büchern innerhalb seines Gesamtwerks beimisst. In der Schreckensgalerie verbindet Ballard die Traumata und gescheiterten Hoffnungen der sechziger zu einer pornographisch-destruktiven Tour de Force durch den menschlichen Albtraum, der gemeinhin Wirklichkeit genannt wird. Ballard wählte hier eine experimentelle, bruchstückhafte Form, mit der er die stilistischen Niederungen konventioneller Science Fiction weit hinter sich ließ. In Crash untersucht Ballard die Zusammenhänge zwischen Sexualität und Verkehrsunfällen, womit er eine Sexualpathologie des Automobilzeitalters liefert. Die heftigen ablehnenden Reaktionen, die das Buch nach seinem Erscheinen hervorrief, macht nur zu deutlich, wie tief Ballard ins Zentrum der postmodernen Seele getroffen hatte.

Ballard beschließt seine Lebenserinnerungen mit einem Bericht über eine Reise nach Shanghai, die er 1991 gemeinsam mit einem Filmteam der BBC unternommen hatte. Noch einmal begibt er sich auf die Suche nach den Orten seiner Kindheit, die zunehmend von den wild wuchernden Hochhäusern der modernen Wirtschaftsmetropole verschluckt werden, bis sie nicht einmal mehr Erinnerung sind. Mit seiner Abreise lässt Ballard diesen Teil seiner Biographie  hinter sich, streift ihn ab wie eine Schlange ihre Haut. Von einer Last befreit, kehrt er nach London zurück, um in der Folge die zufriedensten Jahre seines Lebens zu verbringen. Wie sehr die Zeit in Shanghai seine Haltung als Schriftsteller mitgeformt hatte, vergaß Ballard allerdings nie.

Wunder des Lebens ist vor allem Lebensbeschreibung; Ballard verzichtet fast völlig darauf, aus seiner Autorenwerkstatt zu berichten oder gar Auslegungen seiner Romane und Erzählungen zu liefern. Stattdessen erfährt der Leser, aus welchen biographischen Konstellationen Ballards Werk hervorgegangen ist und wird so befähigt, dessen tiefere Schichten auszuloten. Dass es inmitten der Verwüstungen und Verwerfungen des 20. Jahrhunderts überhaupt möglich war, hier und da auch eine „heile“ Existenz zu führen, muss man vielleicht als das eigentliche Wunder des Lebens ansehen.

(M. Boss)

Format: Buch
Vertrieb: EDITION PHANTASIA
 

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