Unter dem Titel Themes veröffentlichten PSYCHIC TV seit 1982 zwar nicht regelmäßig, aber doch kontinuierlich bestimmte Funktions- und Gebrauchsmusiken, die entweder den Mitgliedern des Temple of Psychic Youth zu rituellen Zwecken dienten – sozusagen experimentelle Musik für rituelle Experimente – oder als Soundtracks für Filme von Derek Jarman Verwendung finden sollten. Die so entstandenen Aufnahmen muss man aber auch als Versuchsanordnungen begreifen, mit denen sich die Auswirkungen bestimmter Klangstrukturen auf den menschlichen Körper erforschen lassen. In einer aufwendig gestalteten 6-CD-Box ist diese Werkgruppe nun erstmalig komplett und digital bearbeitet greifbar.
Eine erste Sammlung von Themes wurde 1982 dem PSYCHIC TV-Album Force The Hand of Chanceals limitierte Bonus-LP beigegeben. Während das erste Stück der CD, eingespielt mit Piano und Klarinette, als eine rituelle Kammermusik von melodischer Schönheit daherkommt, wurden die sieben übrigen Teile überwiegend mit typischen Instrumenten schamanischer Ritualmusik aufgenommen. So benutzen P-Orridge, David Tibet, Peter Christopherson und Stan Bingo u.a. tibetische Knochentrompeten, die Flöten neuguineischer Kopfjäger, afrikanische Initiationstrommeln und verschiedene Tempelgongs und -glocken. Mit diesem Rückgriff auf die Ausdruckstechniken vermeintlich primitiver Stammeskulturen schufen sie akustische Brechstangen, mit denen sich die tieferen Schichten des Bewusstseins öffnen und die Konditionierungen des alles beherrschenden Kontrollsystems aushebeln lassen sollen.
Themes 2 erschien zum ersten Mal 1985 und umfasst Musiken, die ursprünglich für einen Videofilm von Derek Jarman gedacht waren. Losgelöst vom filmischen Kontext dienen sie jetzt der Introspektion, wofür die rezitierten enochischen Schlüssel ein weiteres wirksames Werkzeug sein sollen. 1997 wurde Themes 2 in erweiteter Form neu aufgelegt und enthielt nun sechs weitere Titel, zusammengefasst als A Prayer for Derek Jarman. Eröffnet wird das Prayer mit The Loops of Mystical Union, in dem eine geloopte Passage aus einem Stück des Avantgardekomponisten Alexander Skrjabin verbunden wird mit diversen Noiseelementen. Möglichst laut unter der Einwirkung stroboskopischer Lichteffekte rezipiert, soll der entstandene Klangteppich neurologische Körperreaktionen hervorrufen. Zieht man in Betracht, dass A Prayer for Derek Jarman gut drei Jahre nach dem Tod des Filmemachers erschienen ist, lässt sich das Gebet auch durchaus als ein Requiem begreifen. Unterstrichen wird dieser Eindruck durch die traurig-melancholischen Klavierpassagen von Mylar Breeze 1, 2, 3, wobei die an gregorianische Gesänge gemahnenden Vokalparts mantraartig „Jesus walked on the water“ wiederholen und so auch auf den Film The Garden verwiesen wird, Derek Jarmans sehr persönliche Adaption des Jesusstoffes. Vor allem aber ist der Titeltrack A Prayer for Derek als Trauerarbeit zu lesen: eine sanfte Meeresbrandung, aufgenommen am Strand von Dungeness, wo Jarman ein Haus besaß (ein Foto desselben mit dem dazugehörigen, legendär geworden Garten ziert das Cover von Themes 2), geht über in Babyweinen, welches seinerseits in den Ohren des Zuhörers zu einem Chor von Klageweibern mutiert.
Themes 3 vereint zwei Musiken, mit denen PSYCHIC TV die Auswirkungen manipulierter Klänge und wechselnder Tonfrequenzen vor Publikum erforschen wollten. Beide Teile wurden 1984 live eingespielt, wobei auch mehrere Videomonitore zum Einsatz kamen, um akustische und visuelle Effekte miteinander zu verbinden, alles eingebettet in die bereits erwähnten subversiven, kulturterroristischen Konzepte der Band. Insbesondere bei der audio-visuellen Umsetzung von Black Easter verdichten sich die Obsessionen von Genesis P-Orridge und wichtigen Teilen seines persönlichen Pantheon: Intimpiercings, Bondage, Aleister Crowley, Jim Jones, Charles Manson und die Dreammachine von Brion Gysin, wobei allerdings die rein akustische Überlieferung nur eine verstümmelten Eindruck des Events vermitteln kann.
Den Abschluss der Box bildet Themes 4: Lady Jaye mit sieben, zuvor einzeln auf diversen Tonträgern veröffentlichen Stücken, die die enge, nahezu symbiotische Zusammenarbeit zwischen Genesis Breyer P-Orridge und seinem pandrogynem Zwilling Lady Jaye Breyer zwischen 1993 und 2007 dokumentiert. Die stilistische Bandbreite der Aufnahmen – u.a. Spoken Words, Ambient, Jazzpassagen – spiegelt einmal mehr die stilistische Vielfalt wider, durch die sich PSYCHIC TV seit jeher ausgezeichnet haben.
Abgerundet wird die Box durch ein 32-seitiges, reich bebildertes Booklet, dessen zumeist nicht neue Texte wesentliche Hintergrundinformationen zu Entstehung und Intentionen der Themes liefern. Bei den ausgewählten Fotos fällt auf, dass viele Genesis Breyer P-Orridge gemeinsam mit dem 2010 verstorbenen Peter Sleazy Christopherson zeigen: so wird die Box auch zu einem Denkmal für das Gründungsmitglied von THROBBING GRISTLE und PSYCHIC TV.
Die Themes Box setzt die Reihe von Wiederveröffentlichungen fort, die P-Orridge mit der Neuausgabe der Psychic Bible und der LP-Box At Stockholm (siehe die jeweiligen Besprechungen) begonnen hatte. Zur Abrundung fehlt eigentlich nur noch eine Edition der filmischen Arbeiten von PSYCHIC TV und TOPY; die mit der Psychic Bible mitgelieferte DVD The Psychic Videos konnte da nur ein Anfang sein, die Appetit auf mehr machte.
(M. Boss)
Format: 6CD-Box |
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