Im englischsprachigen Raum vergeht kaum ein Jahr, in dem nicht mindestens ein neues Buch über Charles Manson und seine Family erscheint und zum ungezählten Male die Geschichte der Tate-LaBianca-Morde erzählt wird mit dem Anspruch, endlich die letztgültige Wahrheit zu präsentieren. Zumeist aber wird doch nur Altbekanntes abermals aufgekocht, werden frische Spekulationen geliefert und die seit vierzig Jahren kursierenden Halbwahrheiten neu abgemischt. Gänzlich anders geartet ist Marlin Marynicks 2010 erschienene Monographie Charles Manson Now.
Marynick, der hauptberuflich als Krankenpfleger in der Psychiatrie tätig ist und in seiner Freizeit Memorabilia von Rockstars und anderen, zumeist etwas ausgefallenen Prominenten sammelt, erzählt hier auf sehr persönliche Art und Weise von seiner Reise in und durch den aktuellen Manson-Underground. Zunächst berichtet er von seiner schwierigen Kindheit, dem Selbstmord seiner Mutter, der Flucht in die Rockmusik und seiner Berufswahl. Im Rahmen seiner Sammlertätigkeit stieß Marynick irgendwann auf Manuskripte von Charles Manson. Schon seit frühester Jugend von dessen Fall fasziniert, nimmt er schließlich Kontakt mit Amerikas berühmtesten Häftling auf. Es entwickelt sich ein Briefwechsel, später folgen Telefonate und am Ende erhält Marynick die Einladung, Manson im Gefängnis von Corcoran zu besuchen. So verlässt Marynick das kanadische Regina und begibt sich auf seine ganz private Pilgerreise nach Kalifornien. Nachdem sein erster Versuch, zu Manson vorzudringen, am Gefängnistor scheitert, trifft Marynick auf Gray Wolf, einem Mann Anfang sechzig, der in Corcoran lebt und zu Mansons engsten Vertrauten außerhalb des Gefängnisses zählt. Er wohnt zusammen mit Star, einer jungen Frau Anfang zwanzig, die ihre Heimatstadt verließ, um in der Nähe von Manson zu leben und sich ganz der Verbreitung seiner Philosophie sowie dem Kampf um die Rehabilitierung seiner Person in der Öffentlichkeit verschrieben hat. Gray Wolf und Star erläutern Marynick Mansons bereits zu Beginn der 1970er Jahre entwickeltes Konzept ATWA, dem Akronym für Air, Trees, Water, Animals, seine Vision für eine radikalökologische Politik und den Kampf gegen die fortschreitende Vergiftung des Planeten.
Während das Engagement von Star und Gray Wolf für Manson und seine Ideen spürbar von großer Selbstlosigkeit geprägt ist, trifft Marynick aber auch auf Charaktere, die ihre vermeintliche Verbindung zu Manson vor allem zur Selbstdarstellung und Eigenwerbung nutzen. Da ist z. B. der Rockmusiker und DJ Matthew Roberts, der glaubt, ein leiblicher Sohn Mansons zu sein. Da sind Vicky und „Candy“, die beide behaupten, besonders intime Kenntnisse über Manson und die Family zu besitzen. Und da ist Anton LaVeys Enkel Stanton, der seine ganz eigene Version der Manson-Saga vorträgt und behauptet, dass es zeitweilig eine äußerst enge Beziehung zwischen der Manson Family und der Church of Satan gegeben haben soll mit dem Ziel, etwas ganz Großes aufzuziehen, wobei die Tate-LaBianca-Morde nur die Spitze eines tief satanischen Eisberges darstellen. Wo hier die Grenzen zwischen Wahrheit, Phantasie und paranoider Vernunft genau verlaufen, ist nicht immer klar zu erkennen, aber das war eigentlich schon immer ein Wesensmerkmal des ganzen Mansonmythos.
Höhepunkt von Marynicks Reise ins Mansonland ist natürlich ein Besuch in der Protective Housing Unit des Corcoran State Prison. Bevor er jedoch in das Allerheiligste vordringt, begibt Marynick sich noch in die Mojavewüste, um den dort lebenden Filmemacher und Fotografen John Aes-Nihil zu besuchen, der die wohl umfangreichste Sammlung an Mansoniana besitzt und einen florierenden Handel mit den entsprechenden Devotionalien betreibt. Marynicks erstes persönliches Treffen mit Manson dauerte über fünf Stunden und sollte tags darauf eine Wiederholung erfahren. Auch nach seiner Rückkehr nach Regina blieben Manson und Marynick sporadisch in Kontakt.
Seinen Protagonisten nähert sich Marynick völlig vorurteilsfrei und er macht keinen Hehl aus den Sympathien, die er ihnen entgegenbringt. Dennoch verliert er nie die Distanz zu seinem Thema, und bei aller Faszination für Manson und seiner Weltsicht präsentiert er sich niemals als ein glühender, kritikloser Anhänger. Am Ende aber ist es wie mit jedem Buch über den Manson-Komplex: man erfährt einige neue Fakten, lernt neue Spekulationen kennen, liest neue Deutungen alter Spekulationen und hat doch das Gefühl, weiter von der eigentlichen Wahrheit entfernt zu sein als jemals zuvor. Was Charles Manson Now aber von anderen in den letzten Jahren erschienenen Büchern zum Thema unterscheidet ist der Abdruck zahlreicher, bisher unveröffentlichter Texte Mansons, die Marynicks persönlichen Bericht ergänzen und dem ganzen Buch ein hohes Maß an Authentizität verleihen. Abgerundet wird dies noch durch Reproduktionen einiger graphischer und plastischer Arbeiten Mansons. So wird Charles Manson Now zu einem schon lange überfälligen Nachfolger der legendären, seinerzeit von Nikolas Schreck zusammengestellten Anthologie The Manson Files und Marynick sorgt dafür, dass der Mansonmythos auch im 21. Jahrhundert weiterlebt.
(M. Boss)
Format: BUCH |
Stichworte: |