Im Vorwort zur deutschen Ausgabe der Story-Sammlung Beat Hotel des amerikanischen Dichters Harold Norse schildert der Übersetzer Carl Weissner die zufällige Entdeckung des Cut-ups durch den Maler und Schriftsteller Brion Gysin.
Demnach hatte Gysin bei seiner Vorbereitung von Leinwänden unwillkürlich einige Seiten der Herald Tribune zusammengeklebt und beim flüchtigen Überlesen der neu entstandenen Zeitungsseite folgende Meldung entziffert: „Lardeo/Texas (UPI) Präsident Eisenhower, der seinen Genesungsaufenthalt in Camp David unterbrochen hat, ist in der vergangenen Nacht von Einheiten der 43. Luftlandedivision nahe der mexikanischen Grenze in einem völlig verwahrlosten Zustand aufgegriffen worden. Er wird beschuldigt, die Prostituierte Gloria Baines vergewaltigt und anschließend auf bestialische Weise ermordet zu haben. Wie der Präsident gegenüber Reportern erklärte, sei ihm in seiner ‚ganzen Karriere als professioneller Transvestit noch nie eine derartige Sauerei vorgekommen.‘ Er beabsichtige, seine Amtsgeschäfte in wenigen Tagen wieder aufzunehmen.“
Von Lachkrämpfen geschüttelt, zeigte Gysin seinen Mitbewohnern im Pariser Beat Hotel dieses erste Cut-up. Insbesondere William S. Burroughs erkannte augenblicklich das subversive Potential dieser neuen literarischen Technik, die weit über die zufallsbasierte Dichtung in der Tradition der Dadaisten hinausging. In der Folge arbeiteten Gysin und Burroughs nahezu obsessiv an der Vervollkommnung der Cut-up-Methode. Die Ergebnisse ihrer Kollaboration veröffentlichten sie in diversen Büchern, darunter im Band The Third Mind.
Während Burroughs, der bereits in seinem Antiroman Naked Lunch die Auflösung überkommener semantischer Strukturen betrieben und an der Dekonstruktion der Sprache als Mittel der Manipulation gearbeitet hatte, das Cut-up für mehrere Jahre zu seiner bevorzugten Schreibtechnik machte, wurde die neue Methode für Gysin zu einer weiteren Möglichkeit Malerei und Dichtung miteinander zu verbinden, nachdem er zuvor schon mit der Kalligraphie experimentiert hatte.
Seine künstlerische Laufbahn hatte der am 19. Januar 1916 in England geborene und in Kanada aufgewachsene Gysin als Zeichner im Paris der dreißiger Jahre begonnen, wo er an der Sorbonne studierte. Gysin kam in Kontakt mit der Gruppe der Surrealisten und erhielt 1935 sogar die Einladung, sich an einer Ausstellung zu beteiligen. Jedoch wurden die Zeichnungen des jungen Autodidakten auf Veranlassung des Obersurrealisten André Breton kurz vor der Eröffnung wieder von den Galeriewänden entfernt, was Gysin den Titel des „abgehängten Surrealisten“ einbrachte. Dieser Vorfall wurde für Gysin zu einem Trauma, das auch eine Einzelausstellung im Jahre 1939 nicht auslöschen konnte, obwohl Kritiker ihm bescheinigten „der vielversprechendste Maler seiner Generation zu sein“.
Vor dem Krieg in Europa floh Gysin 1940 nach New York, um sich dort statt der Malerei nur noch dem Schreiben zu widmen. Er verfasste etliche Kurzgeschichten, die er allerdings nur selten in Zeitschriften veröffentlichen konnte. Seine Romane wurden von keinem Verleger angenommen. Im Jahr 1950 kehrte Gysin nach Paris zurück, tief deprimiert vom Scheitern all seiner Ambitionen. In dieser Situation nahm sich Paul Bowles, dem kurz zuvor mit dem Roman Himmel über der Wüste der literarische Durchbruch gelungen war, seiner an und lud Gysin ein, zu ihm und seiner Frau Jane nach Marokko zu kommen. Gysin tauchte ein in die für ihn fremde Welt Nordafrikas, ließ sich von der Atmosphäre Tangers und Marrakeschs verzaubern und verfiel der Faszination der Sahara. Hier entstanden etliche Erzählungen sowie eine Serie von kleinformatigen Wüstengemälden, durch die Gysin zum Maler der Sahara wurde. Bei einer Ausstellung dieser Bilder 1954 in Paris begegneten sich Gysin und Burroughs zum ersten Mal, ohne beim jeweils Anderen einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen.
1958 zog Gysin in das Pariser Beat Hotel, wo er neben dem schon erwähnten Cut-up auch die Dreammachine erfand, einen mit Schlitzen versehenen, von innen beleuchteten Zylinder, der mittels eines Plattenspielers in Drehung versetzt wurde. Mit geschlossenen Augen setzte sich der Betrachter den flackernden Lichteffekten aus, die psychedelische Visionen auslösten und so eine Malerei im Kopf schufen. Ab 1962 präsentierte Gysin die Dreammachine in verschiedenen Ausführungen im Rahmen von Gruppenausstellungen, vornehmlich denen der Nouveau Realistes. Allerdings missverstanden Kritiker Gysins Erfindung als einen verspäteten Beitrag zur kinetischen Kunst, ohne ihre eigentliche Tragweite zu erfassen. Versuche die Dreammachine in Serie herzustellen scheiterten, da keine Investoren gefunden werden konnten.
Als Maler widmete Gysin sich seit den frühen sechziger Jahren wieder verstärkt der Kalligraphie, wozu ihn vornehmlich die Kunst Marokkos inspiriert hatte. Seine ungegenständlichen Schriftbilder rücken ihn in die Nähe des abstrakten Expressionismus sowie des Tachismus, erinnern aber auch an die Werke der deutschen Malerin Hanne Darboven. Im Jahr 1969 veröffentlichte er den autobiographischen Roman The Process, der von der Reise eines schwarzen Intellektuellen durch Marokko erzählt. Zu Gysins Enttäuschung verkaufte sich das Buch aber schlecht und erhielt nur wenige wohlmeinende Kritiken. In den siebziger Jahren entwickelte Gysin Gittercollagen, in denen er serielle Malerei mit Techniken des Films mischte. In den frühen Achtzigern startete Gysin eine Kollaboration mit dem aufstrebenden Maler Keith Haring, die in dem exklusiven Künstlerbuch Fault Lines mündete, das Bilder von Haring und Ausschnitte aus Gysins letzten Roman The Last Museum vereinte.
Im Juli 1986 starb Gysin nach einer langen Krebserkrankung.
Dem Ausnahmekünstler Gysin, der sich zwar immer in der Nähe der Avantgarden seiner Zeit – gleichgültig ob nun Surrealismus, abstrakter Expressionismus oder Nouveau Realisme – befand, aber sich doch immer einen Schritt neben diesen im unberührten Gelände bewegte, widmet das New Museum in New York nun eine große Retrospektive. Der zur Ausstellung erschienene Katalog dokumentiert mit zahlreichen Abbildungen und Fotos vor allem Gysins Zusammenarbeit mit Burroughs, die Kalligraphien, Arbeiten mit der Dreammachine sowie späte Gemäldezyklen und Photocollagen – Gysins frühe surrealistische Arbeiten sowie die Saharagemälde fehlen leider. In vier Aufsätzen wird der Lebensweg Gysins nachgezeichnet, seine Beziehung zu den Surrealisten beleuchtet, die Zusammenarbeit mit Burroughs dokumentiert sowie sein künstlerisches Gesamtwerk einer Analyse unterzogen und im Kontext der Kunstgeschichte verortet. Als besonderen Gimmick enthält der Katalog auch einen Bausatz für eine Dreammachine. Darüber hinaus berichten Künstler der jüngeren Generation von ihren Begegnungen mit Gysin bzw. seinem Werk und legen dar, welchen Einfluss seine vielfältigen Arbeiten auf ihr eigenes Schaffen hatten. Hierzu zählen u.a. der Dichter und ehemalige Liebaber Gysins John Giorno, Genesis Breyer P-Orridge sowie der Installationskünstler Cerith Wyn Evans. Kurz vor seinem Tod hatte Gysin eine äußerst pessimistische Bilanz seines Lebens gezogen und es als seinen größten Fehler betrachtet, immer zwischen Malerei und Literatur hin und her gependelt zu sein, ohne sich jemals auf eine Disziplin festzulegen, weshalb er weder als Maler noch als Schriftsteller etwas von Wert geschaffen habe. Der rezeptionsgeschichtliche Teil von Ausstellung und Katalog dagegen belegt, wie sehr Gysin sich hier geirrt hat, und dass gerade sein interdisziplinäres Arbeiten zu einem spannungsreichen Werk geführt hat, dessen geistige Tiefe und subversive Kraft erst heute wirklich erkannt wird.
Die Ausstellung in New York läuft noch bis zum 3. Oktober 2010; eher eurozentristisch orientierte Kunstliebhaber haben von Juli bis Oktober 2011 Gelegenheit, die Ausstellung im Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris zu besuchen. (M.Boss)
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