Im Martyrium der untergehenden DDR gegen Ende der 80er Jahre sprangen die FREUNDE DER ITALIENISCHEN OPER sinngemäß aus der Torte ihres vermeintlich Namen gebenden Filmes „Manche mögen es heiß“ und sorgten nicht nur in Dresden für einigen Wirbel. Das illustre und stets gut gekleidete Künstlerkollektiv war dekadent, provokant, aggressiv und populär zugleich. Nach dem Fall der Mauer drehte die Band erst so richtig auf und legendär ihr Mitwirken im „Faust II“-Theaterstück von Wolfgang Engel, der abgebrochener Auftritt im Hygienemuseum vor versammelter Polit-Prominenz oder die „Um Thron und Liebe“-Revue im ausverkauften Schauspielhaus anlässlich der ersten Schallplatten-Veröffentlichung. 1993 war dann allerdings Schluss mit der „edlen Einfalt und stillen Größe“ der FREUNDE DER ITALIENISCHEN OPER und müßig darüber nachzudenken, was gewesen wäre, wenn?! Zwar gab es 2004 anlässlich des 40. Geburtstages ihres Kapellmeisters Ray van Zeschau eine einmalige Reunion der Band und 2009 stand diese in neuer Besetzung plötzlich in Leipzig im Rahmen des Mauerfall-Jubiläums auf der Bühne. So richtig los ging es jedoch erst wieder 2018 mit der Veröffentlichung der CD „Via Dolorosa“, welche größtenteils neu eingespielte Versionen der alten Songs bot. Ähnliche Ausgangslage jetzt auch beim neuen Album „Kassandras Komplex“, das diesmal rund zur Hälfte auf altes Material und Song-Fragmenten zurückgreift, die zum Teil nie aufgenommen oder veröffentlicht wurden, dieses jedoch radikal verändert präsentiert wird! Zu aller erst wäre da der Wechsel (bis auf wenige Ausnahmen) zum deutschen Gesang, was in dieser geballten Form überraschend ist und eine gewisse Eingewöhnungszeit benötigt. Ebenso ist die Stimme des Meisters über die Jahre dunkler und tiefer geworden, was insbesondere den härteren Gesangs-Passagen zu gute kommt, wie ein gewisser Rockabilly-Slang nicht zu verleugnen ist. Musikalisch gehen die Songs trotz des Fehlens von Posaune und Keyboard und bei aller klaren Kante im Sound dafür deutlich in die Breite. Dies ist vor allem ein Verdienst von Joey A. Vaising (THE TISHVAISINGS, THINK ABOUT MUTATION, THE SONIC BOOM FOUNDATATION, TOTL XS CTRL), der sich inzwischen als interner Motor der FREUNDE DER ITALIENISCHEN OPER verdient macht. Prägnant auch die halsbrecherischen dicken Saitenläufe seines langjährigen Band-Kollegen und aktuellen KNORKATOR-Basser Rajko Gohlke, die der 2.0 Version der FDIO ordentlich Dampf unterm Hintern machen. Gleich der Album-Opener „Der Garten“ geht nach einer kurzen Hommage an FOYER DES ART in die Vollen, um schließlich im heftigen Gitarren-Noise-Inferno zu enden. Mit „Rogers Fall“, „1989“ und „Des Volkes Jammer“ folgen danach deutlich aufgeboosterte Interpretationen alter Band-Klassiker, zwischen denen auch neues Material wie „Vincent“ oder „Your_Heaven“ gestreut ist. Absolut zwingender Höhepunkt der viehischen Raserei ist dann „She Kills The Laugh“, was eine Erstvertonung von „Ikarus“ aus der Eingangs erwähnten „Faust II“-Inszenierung und in seinem treibenden Drive ein regelrechter Hit ist. Ein weiterer Glanzpunkt das abschließende „Der leere Raum“, was der tragischen Dramatik angemessen ein richtig dunkel-hymnischer Doom-Opus geworden ist! Schon sehr beeindruckend, was die „alten Herren“ hier alles so raus geholt haben, zumal ich persönlich ja als „Freund der ersten Stunde“ lange mit der neuen Besetzung der Band gefremdelt habe. Die 12 Songs von „Kassandras Komplex“ überzeugen auf jeden Fall vollends und somit wäre auch die Frage zum Album des Jahres für mich geklärt!
Neben der Platte mit 10 Titeln, wovon es neben der regulären schwarzen, auch eine auf nur 100 Exemplare limitierte Variante in kassandrarotem Vinyl gibt, erscheint das Album parallel digital, wie auf CD und Kassette mit allen 12 Songs. Zur Veröffentlichungs-Feier am 03.10.2024 kehren die FREUNDE DER ITALIENISCHEN OPER abermals ins Schauspielhaus in Dresden zurück, um die Erweckung von „Kassandras Komplex“ gebührend zu feiern. Danach geht es auf Tour durch diese Republik, welche ja gerade an das Weimarer Babylon vor 100 Jahren oder den „Wendeherbst“ erinnert und FREUNDE DER ITALIENISCHEN OPER-Titel wie „Des Volkes Jammer“, „Rogers Fall“ oder „Delyo Haydutin“ bittere Aktualität genießen. (Marco Fiebag)
Format: MC/LP/CD |
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