Oswald Henke, künstlerischer Leiter, Texter und Gründungsmitglied von Goethes Erben, hat deutlich gemacht, dass mit diesem 10. Studioalbum der geneigten Hörerschaft der letzte haptische Tonträger vorgelegt wird. So steht es auch in den Credits geschrieben. Bereits mit seinem Nebenprojekt „Erblast“ beschreitet er ausschließlich nur noch digitale Downloadpfade via Bandcamp. Denn da „der Tonträgerhandel mehr oder weniger scheintot ist oder teilweise schon leichenstarr“ wie es Herr Henke in einem Interview mit dem Label Dryland betont, lohnt sich der Aufwand Musik auf Scheiben zu pressen für Musiker nicht mehr.Hier aber hat man sich noch einmal erweichen lassen und bietet „X“ nun – wie auch bereits die beiden Vorgängeralben (Am Abgrund & Flüchtige Küsse) – in kleiner Auflage in 12-Zoll-Größe an. Songpaten ließen der Produktion monetäre Unterstützung zukommen, indem sie im Vorfeld die Patenschaft ersteigerten und nun ihre Namen am Ende des entsprechenden Liedtextes vorfinden. Bereits auf der vergangenen Tournee wurden die Stücke, wie man es von dieser Band gewohnt ist, sehr emotional und dramaturgisch überzeugend zu Gehör gebracht, so dass ein Kauf der Platte für mich da bereits außer Frage stand. Die Kraft, welche die Lieder live auf der Bühne klanglich entwickelten, konnte auf weite Strecken auch im Studio eingefangen werden, was beim Hören ein zufriedenes Lächeln und einige Bilder aus der Konzerthalle einkehren lässt. Der wesentliche Grund dafür ist aus meiner Sicht, dass Goethes Erben seit vielen Jahren zu einem eingespielten Quartett zusammengewachsen sind.
„Bin ich blind“ ist wie ein langer Gang, den man erst entlang muss, um den X. Raum überhaupt erst betreten zu können. Der Sprechgesang von Oswald Henke ist schon allgegenwärtig, klingt aber noch wie aus weiter Ferne kommend. Zum Ende des Stückes öffnet sich die Tür und lässt die Instrumentierung in Gänze auf den Hörer einschlagen. Mit der Bitte aufzuwachen wird man an den „Traum vom Leben“ herangeführt. Was sich auf den letzten beiden Alben bereits deutlich bemerkbar machte: Goethes Erben sind härter und die Stücke dabei eingängiger geworden. Gleichzeitig bewahren sich die Erben Ihre Fähigkeit die Verletzlichkeit und den Schmerz musikalisch und stimmlich sehr glaubhaft einzufangen. Dafür schweigen die Gitarren immer dann, wenn Oswalds Stimme Raum benötigt Fragen an das Leben zu stellen oder Wünsche zu äußern. Dann ist nur noch das Keyboard da und man möchte sich hinlegen und fallenlassen. Erst finsteren Prophezeiungen werden wie bspw. bei den Liedern „Nagen“ oder „Xenomelie“ Industrial- und Metalklänge zur Seite gestellt. Da möchte man dann doch lieber wieder aufstehen und wachsam bleiben, denn allzu rosig wird einem die Zukunft nicht gezeichnet. Wer hätte das gedacht? Mit „Zeitwert“ wird man in Klavierbegleitung „Voraus ins Ungewiss, zum Glück unmöglich“ wieder aus dem Raum X entlassen, der mittlerweile eher einem Saal gleicht. „Was man nicht erlebt, ist nicht existent“. Ich habe dieses Album erlebt und es existiert UND es ist alle Zeit wert, die es auf dem Plattenteller rotiert.
Abwechslungsreich und sauber produziert werden hier Industrial, Gothic-Rock, Ambient und Musiktheater aufs Tablett gelegt. Nach wie vor gilt: Zum Nebenbeihören ist diese Musik ungeeignet. Sie braucht Lautstärke und verdient die volle Zuwendung. Das Album funktioniert auch ohne die legendäre Optik von Oswald Henkes Bühnenpräsenz ganz wunderbar in der eigenen Stube. Wer sich den Live-Bonus aber doch holen möchte, hat in Kürze Gelegenheit dafür. Für’s Frühjahr sind Konzerte in Belgien und Deutschland angekündigt. (M.Wienecke)
Format: LP |