Wir haben gerade mal erste Ende Januar 2023 und schon steht für mich eines der Alben des Jahres fest! Das dieses dann noch von einem 80jährigen Altmeister kommt, der schon gleich mit seiner ersten Band in den Musikolymp eingezogen ist, finde ich um so mehr beachtlicher. Die Rede ist hier von John Cale, welcher mit THE VELVET UNDERGROUND 1967 Musikgeschichte geschrieben hat und inzwischen neben Moe Tucker der letzte Überlebende der Urbesetzung dieser einflussreichen Band ist. Seit seinem Ausstieg nach dem zweiten Album bei den VELVETS kann er auf eine imposante Solo-Diskografie zurück blicken und auf diverse Produzenten-Arbeiten verweisen. Dabei hat sich der klassisch ausgebildete Bratschist nie vor Experimente und Kollaborationen gescheut, aber was er hier in den über 70 Minuten auf „Mercy“ abliefert, überrascht, verwundert und bezaubert zugleich. Gedämpfte Beats, ätherisch ambiente Klangschleifen + schwebende und meist verfremdete Stimmen bestimmen die 12 an sich recht langen Songs. Die Vocals erinnern an eine Mischung aus David Bowie, Scott Walker und Liz Fraser und werden meist von aktuellen jungen Künstlern, wie zum Beispiel Laurel Halo, WEYES BLOOD, Sylvian Esso, ACTRESS, Tei Shi, THE FAT WHITE FAMILY oder ANIMAL COLLECTIVE, gefeatured. Diese nehmen sich jedoch sehr dezent zurück und verwahren damit angenehm jeder En Vouge Hipsternis. Mit „Moonstruck“ ist auch eine Hommage an seine ehemalige Muse Christina Päffgen aka Nico dabei, die ihn scheinbar nach all den Jahren immer noch nicht loslässt. Thematisch fußt das Album jedoch ganz aktuell in der Neuzeit und ist beeinflusst von den Bad News bzw. dem Sterben seiner Altersgenossen, Corona-Pandemie, Brexit, Klimawandel, autoritären Regierungen, Turbo-Kapitalismus, Extremismus und Flüchtlings-Krise. All das fokussiert sich auf „Mercy“ in einen souligen Klagegesang voller Wärme und Hoffnung auf ein gutes Ende für diese Welt, dessen melancholische Moll-Grundierung letztendlich aber wenig Aussicht darauf gibt. Da können wir noch so viel demokratisch wählen, demonstrieren, auf Straßen festkleben, „Seenotrettung“ betreiben und Panzer liefern – es wird sich leider nichts ändern am Lauf dieser Welt! „Mercy“ ist für mich dazu der einlullend-betörender Klangtrip, irgendwo zwischen wohligen BURIAL’schen Atmo-Knistern, dem verstörenden Scott Walker-Experiment „Tilt“ und mit schlafwandlerisch apokalyptischer Lars von Trier-Bebilderung oben drauf. (Marco Fiebag)
Format: 2LP+7"/2LP/CD |
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