WERMUT Interview (Black 40)

WERMUT oder Treue ohne Reue

Das Projekt WERMUT tauchte voriges Jahr im Umfeld von HIS DIVINE GRACE und NOVY SVET auf und veröffentlichte eine 10“ im Post Industrial-Stil auf Old Europa Cafe. Die Anfang diesen Jahres erschienene Split-7“ mit ROD DROID ging dann aber plötzlich forsch in die Minimal Elektro-Ecke und die folgende aktuelle 10“ untermauerte diesen ersten Eindruck weiter. Trotzdem blieb das Ganze mysteriös und gab Anlaß zu Fehlinterpretationen – bis zu diesem Interview, doch lest selbst:

? Ordnung muß sein und als erstes würde ich gerne Eure Nationalität klären, denn Eure (Künstler-) Namen klingen südländisch, Eure Homepage und Email-Adresse führt jedoch nach Frankreich, aber wohnhaft seid Ihr in Hamburg bzw. sprecht recht gut Deutsch…?

Laszlo: Welch eine bürokratische Frage und das im Zeitalter der Völkerverständigung!
Sofia: Auf meinem Paß steht Staatsangehörigkeit: „Französisch“.

Laszlo: Ich wünschte auf meinem stünde „Preußisch“, obwohl ich eher ein Verehrer LUDWIG des Zweiten bin…

? Wann und aus welchen Grund habt Ihr WERMUT ins Leben gerufen bzw. welche Verbindung besteht zwischen Euch und HIS DIVINE GRACE bzw. NOVY SVET, welche u.a. als Gäste auf Eurer Debüt-10“ bei Old Europa Cafe vertreten waren?

Laszlo: WERMUT wurde in 2001 gegründet, mit der Absicht romantische oder nostalgische Themen mit einer Mischung aus kalter, moderner Elektronik und einer Prise altmodischer Instrumente auszudrücken.

Sofia: Was Moonchild ERIK alias HIS DIVINE GRACE betrifft, ist er ein alter Mitstreiter aus den Zeiten Gigabrothers. Dies war ein zwischen 1996 und 2001 sehr aktiver Pariser Bund verschiedenster Künstler, deren Erzeugnisse auf der Internetseite gleichen Namens präsentiert wurden. Einige von ihnen haben wir zur Aufnahme der „Les cinq-a-sept post-neoistes“ eingeladen, wie auch NOVY SVET, die wir vor ein paar Jahren in Wien kennengelernt haben. JÜRGEN WEBER und Frl. TOST gehören zu den wenigen Menschen, mit denen wir uns, trotz unserer Sozialverkrüppelung, wirklich verstehen.

? Spielte bei der Namensgebung für Euer Projekt das gleichnamige und leckere weinhaltige wie berauschende Getränk eine Rolle?

Laszlo: Nicht wirklich. Eigentlich ist der Name WERMUT eine Anspielung auf eine Stelle in der Offenbarung des Johannes, in welchem es heißt, daß ein Stern dieses Namens auf die Erde stürzte und alle Gewässer bitter und ungenießbar machte. In Zeiten der unverdaulichen Zuckersüße, der allgemeinen Ich-Zufriedenheit haben wir halt den Weg der Bitterkeit gewählt.

Sofia: Die Assoziation mit dem Getränk, dessen Mysterium und Tradition gefällt uns jedoch ganz gut, weil es gar nicht im Sinne der Moderne ist, stundenlang zu warten bis der gute Tropfen zum Mund geführt wird. Es paßt einfach zu unserem pathologischem Reiz des Vergangenen.

? Schon erwähnte 10“ auf Old Europa Cafe barg ja noch mediterranen melancholischer Post-Industrial, aber die folgende Split-7“ mit ROD DROID bei Kernkrach und die aktuelle 10“ auf Eurem eigenen Label geht es flugs in Richtung Minimal Electro/NDW – unterlag diese Entwicklung einem Plan oder wie kam es dazu?

Sofia: Es gab weder Plan noch eine Evolution. Die zwei Strömungen begleiten uns seit der Gründung WERMUT‘s und die besagten Stücke auf Old Europa Cafe und Kernkrach sind sogar zeitgleich entstanden. Diese Mischung ist ein Bestandteil unseres Konzeptes und dies ist meines Erachtens durchaus eindeutig auf dem neuen Album „Hoffnung“. In Zukunft planen wir auch wieder ein thematisch und stilistisch gezielteres Werk, mit antiquierteren Tönen.

Laszlo: Im Übrigen sind uns die Gefühle, das Getragene, die Essenz der Musik weitaus wichtiger, als der Träger, die Musik im rein materiellen Sinne und ihre Unterteilung in Kategorien.

? Kennt Ihr die Kritik von LE SYNDICAT ELECTRONIQUE im letzten EQUINOXE an der derzeitigen boomenden Minimal-Szene und wenn ja, wie ist dazu Eure Meinung? Ich finde es ehrlich gesagt auch ein wenig verwunderlich, wie viele Industrial-Musiker und auch Labels jetzt auf diesen Trend umschwenken.

Laszlo: A//’s Kritik an die Minimalszene gilt wohl hauptsächlich den Untergrundsmusikern, dessen eindeutige Absicht es ist, im derzeitigen Strom mitzuschwimmen, gar versuchen Töne zu reproduzieren, die sie tagtäglich im Radio oder Supermarkt zu hören bekommen. Jedoch erreichen sie nicht Ihr Ziel und landen zwangsweise im Untergrund.

Sofia: Wir selbst hören ja recht wenig Minimal-Elektro und versuchen, im Rahmen unserer bescheidenen Möglichkeiten, der Informationsflut durch Radio und Fernseher zu entkommen. Wir haben also kaum Gelegenheit uns wegen irgendeinem Trend aufzuregen. Mir war auch nicht bewußt, daß so viele Industrial-Musiker jetzt dem Minimal-Elektro unterliegen, aber selbst wenn dies stimmt, ist es kein Grund zur Verwunderung. Beide Stilrichtungen, die Du erwähnst, haben immerhin den selben Ursprung: Nehmen wir an, „United“ oder „Hot On The Heels Of Love“ würden heute das Tageslicht erblicken, würden diese Stücke nicht sofort in der Minimal-Schublade landen? Wie dem auch sei, denke ich nicht, daß A// die Musiker meint, die dem Industrial entstammen. Außerdem glaube ich in seiner Ästhetik, Vorgehensweise und Authentizität viele Elemente des einstigen Industrials wiederzuerkennen, die zum Charme und zur Sonderlichkeit seiner Projekte beitragen.

? Euer eigenes Label hört auf dem markigen wie vorbelasteten Namen Treue um Treue, Ihr bedient Euch textlich gesehen in letzter Zeit verstärkt bei den deutschen Romantikern und auf dem Beiblatt der aktuellen 10“ posiert Ihr vor dem geschändeten Kriegerdenkmal in Hamburg – ein Schelm, der Arges dabei denkt oder?

Laszlo: Arges zu denken oder nicht ist einem jeden selbst überlassen. Treue ist nun mal ein überalteter Wert und nicht wirklich an der Tagesordnung der Spaßgesellschaft. Wie auch unser Interesse für Vergangenes, unsere Lektüren verstorbener und staubbeladener Schriftsteller, die unserem Drang nach Verständnis der heutigen Mißstände entspringen, nicht im Sinne der modernen Entgeistigung und Desinformation sind. Das neuzeitliche Phänomen, daß ein jeder den Feind nicht zuerst in sich selbst, aber in den anderen sucht, zeugt von einem Mangel der so großartig besungenen Toleranz; und um dieses festzustellen bedarf es einer zeitlichen und geistigen Distanz. Zu gerne würde die Moderne all diese geschriebenen Worte aus dem Wege räumen, um sie mit dem farbigen Freudesprudel des end- und sinnlosen Konsums, mit tragbaren Telefonen, Fernseher und anderen Denkprothesen zu ersetzen. Aber selbst das, stand schon in der Bibel (auch in der Offenbarung des Johannes!). Worte, die keiner mehr verstehen kann bzw. will! Was das Kriegerdenkmal betrifft, ist der Krieg nun einmal Bestandteil unserer Geschichte, auch wenn er heutzutage auf ganz anderen Ebenen stattfindet.

? Bei dem Cover zur ebenfalls schon erwähnten Split-7“ auf Kernkrach mußte ich irgendwie an eine Verarsche der DEATH IN JUNE-Covermotive der „Nada“-Ära denken – liege ich damit vielleicht gar nicht mal so falsch oder wer sind die STEFFENS, an deren Grab Ihr da weilt?

Laszlo: Die STEFFENS hatten nur das Unglück eines der schönsten Gräber im Ohlsdorfer Friedhof zu haben! Um ehrlich zu sein, hatten wir gar nicht an DEATH IN JUNE gedacht, als wir die Fotos zur Split-Single machten, zumindest nicht bewußt. Eine „Nada“-Verarsche wäre sowieso ein Zeugnis schlechten Geschmacks gewesen…

Sofia: Wie kommt es überhaupt, daß jede Referenz, ob bewußt oder unbewußt, als kritische Parodie interpretiert wird, und nicht als Zeichen der Verehrung oder Huldigung?

? Und wo wir gerade beim Thema sind: Ich habe gehört, das aus dem HIS DIVINE GRACE-Umfeld lustige Minimal Electro-Coverversionen von DER BLUTHARSCH und DEATH IN JUNE im Umlauf sein sollen – stimmt das und habt Ihr vielleicht etwas damit zu tun?

Sofia: Um es ein für alle mal auf den Punkt zu bringen: Die Coverversionen (C64er-Bearbeitungen von alten DEATH IN JUNE- und DER BLUTHARSCH-Stücken), von denen Du sprichst, stammen von TACITURNE, ein Musiker, der ebenfalls auf Gigabrother vertreten war. Wir haben insofern damit zu tun, daß wir, nachdem der zuständige Provider alle MP3s vom Netz entfernt hatte und viele der Künstler andere Wege gingen, uns die mühsame Aufgabe aufgezwungen haben, das gesamte Vermächtnis Gigabrothers als CD-R‘s auf Gigabroaurus Records zugänglich zu machen. Ein Vorhaben, das uns noch einige Jahre beschäftigen wird!

? Auf Eurem Seitenlabel Reue um Reue ist eine NOVY SVET-Veröffentlichung geplant – könnt Ihr dazu schon genaueres berichten?

Sofia: Oh, da war wohl die Tür zur Giftküche ein Spalt offen… nun ja, es ist eine Zusammenarbeit zwischen HIS DIVINE GRACE und NOVY SVET auf dem Wege der Fertigstellung, welche auf dem reuevollen Pendant zu Treue um Treue, also Reue um Reue, Anfang Juni erscheinen soll.

? Wenn ich das jetzt richtig mitbekommen habe, seid Ihr mit WERMUT inzwischen zwei Mal Live aufgetreten – wie darf man dabei von Euch erwarten und wie waren bisher die Reaktionen des Publikums bzw. Eure eigenen Eindrücke?

Laszlo: Die zwei besagten Konzerte waren einfach wundervoll. Beim ersten Konzert zum Kernkrach-Festival wurden wir noch von Formalhaut B am Saxophon (und an der Zigarette) begleitet, aber im ursprünglichen Sinne sind wir nur zu zweit auf der Bühne: SOFIA übernimmt einen Großteil der Maschinen und spielt für ein paar Stücke ihrer Stimmbänder. Ich kämpfe mit dem Mikrofon und bete, daß der Casio es noch einen Abend mitmacht. In Amsterdam waren wir wirklich vom Publikum begeistert. Es war aufgeschlossen, aufmerksam und vor allem bunt gemischt. Eben all das, was man im Norden Deutschlands nicht kennt…

? Hat nicht SOFIA auch ein Seitenprojekt neben WERMUT und wenn ja, was gibt es darüber Interessantes zu berichten?

Sofia: Du meinst vermutlich KOSTNICE. Jenes Projekt gilt seit 2001 dem Interesse der Gebeine, den Überresten Verstorbener und den Orten der letzten Ruhe. Die Faszination des Todes gibt mir hierbei das Gefühl lebendig zu sein – ein Gefühl, welches abgesehen vom allzumenschlichen Gemeinplatz, der Behauptung des Lebens, in keinem Falle eindeutig ist. Die Musik von KOSTNICE hat mit der WERMUT‘s wenig zu tun. Eher könnte man es als alchemistische meditative Klangcollage bezeichnen. Eine erste breite Veröffentlichung sucht noch ein Zuhause.

? Wie sind Eure weiteren Pläne mit WERMUT für dieses Jahr?

Laszlo: Wie schon vorher erwähnt, arbeiten wir an einem Album, welches mehr zum Stil der „Les cinq-a-sept post-neoistes“ tendiert. Ein Seitenprojekt namens ICH WOLLTE ICH KÖNNTE sollte auch in nächster Zeit auf Invasion Planete erscheinen, und so mancher Samplerbeitrag ist in Vorbereitung. Ansonsten warten wir auf die nächste Gelegenheit einer öffentlichen Darbietung.

? Ein BLACK-Standart ist die Frage nach Euren persönlichen aktuellen und zeitlosen Tonträgern, denen ihr zur Zeit bzw. regelmäßig Euer Ohr schenkt?

Sofia: Die zeitlosen Tonträger aufzulisten, wäre zu mühselig und die Gefahr dabei etwas zu vergessen viel zu groß. Ansonsten höre ich bevorzugterweise in Phasen, in welchen ich mich monomanisch einer Gruppe oder gar einem Album widme, wie momentan rückblickend dem Schaffen von CHRIS & COSEY… Einen großen Teil meines Herzens habe ich wohl an SCIVIAS neuem Album „Stong-Pa-Nyid“ verloren und die letzte markante, gewiß etwas verspätete Entdeckung war TROUM.

Laszlo: Ich bin seit ein paar Jahren der elektronischen „Illustration Sonore“ (Library Music) und Artverwandtem aus den 70er/80er verfallen. Werke von Caravelli, Patrick Vasori, Richard Pinhas, Tyndall, Johanna D’Armagnac, Serge Blenner, Sauveur Mallia, Space Art, Roland Bocquet, Jean-Louis Ducchi, Jacques Erdos, Alan Hawkshaw… und natürlich SPACE! Zeitlos ist allein die Suche nach der heiligen Musik…

? Ich danke WERMUT für dieses Interview und wünsche für die Zukunft alles Gute.

(M.Fiebag)

Discografie:

2004 – „Les cinq-a-sept post-neoistes“ (10“) – Old Europa Cafe

2005 – „Split mit ROD DROID“ (7“) – Kernkrach

2005 – „Hoffnung“ (10“) – Treue um Treue

Mailorder: Going Underground
 

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