Als Genesis P-Orridge am 14. März 2020 in einem New Yorker Krankenhaus seiner Leukämieerkrankung erlag verlor der gegenkulturelle Underground eine seiner innovativsten, einflussreichsten, aber auch skandalträchtigsten Leitfiguren. So avancierte der 1950 als Neil Andrew Megson in Manchester geborene Genesis P-Orridge zu Beginn der 1970er Jahre als Mitglied der in ihren Aktionen nahezu sämtliche Tabus brechenden Performancegruppe COUM Transmissions zu einem der meistgehassten Männer Englands. Mit der Band THROBBING GRISTLE, die 1975 aus COUM Transmissions hervorging, wurde P-Orridge zum Miterfinder der Industrial Music, um dann zu Beginn der 1980er Jahre mit PSYCHIC TV eine okkult-magische Rockband zu formen. Darüber hinaus gründete P-Orridge mit dem TEMPLE OF PSYCHIC YOUTH einen eigenen Orden und wurde zum Vorkämpfer der Body Modification. Von all dem und noch viel mehr erzählt der Literaturwissenschaftler und Kulturkritiker Uwe Schütte in seinem im Verlag Andreas Reiffer erschienenen biographischen Essay GODSTAR – DIE FÜNF TODE DES GENESIS P-ORRIDGE. In seinem Erzählfluss schert Schütte sich nicht großartig um chronologische Abläufe oder einen stringenten Aufbau seines Textes. Stattdessen geht er, bester Cut-up-Tradition folgend, frei und wild assoziierend vor und greift wie zufällig Menschen, Ideen und Ereignisse auf, die in unterschiedlichster Form mit Genesis P-Orridge in Verbindung standen oder ihn beeinflussten. In diversen Exkursen präsentiert Schütte u.a. Leben und Denken von Aleister Crowley (und berichtet ganz nebenbei noch von seiner Besichtigung der Ruinen von dessen Abtei Thelema auf Sizilien), führt ein in Anton LaVeys Satanismus ohne Satan und macht seine Leser am Beispiel der Aktionen von Marina Abramovic mit den Intentionen der Performancekunst bekannt.
Wie ein roter – oder besser gesagt schwarzer – Faden schlängelt sich der Tod durch das gesamte Buch: da sind die klinischen Tode, die P-Orridge gestorben ist und ihn dazu brachten, das Leben vom Ende her zu denken: der Tod kann dich jederzeit erwischen (besonders, wenn man, wie P-Orridge, an Asthma leidet), also gilt es, jeden Augenblick zu nutzen, möglichst viele Ideen und Projekte umzusetzen und keine Sekunde Lebenszeit zu verschwenden. Schütte reflektiert ferner über die Möglichkeit von Nahtoderfahrungen und begleitet das Sterben von Pop-Ikonen wie David Bowie oder Ian Curtis. Es stirbt sich nicht immer gut, aber oft recht schnell im Rock ’n‘ Roll-Zirkus.
Neben P-Orridge selbst hat GODSTAR noch einen weiteren Protagonisten (was der gemeinhin als egomanisch geltenden ‚Tante Gen‘ vermutlich kaum gefallen würde): Brian Jones, den Mitbegründer der Rolling Stones und in den Anfangsjahren der Band deren kreativer Kopf. Im Jahr 1966 kam es in der Kantine eines TV-Studios zur zufälligen Begegnung zwischen dem damals 16-jährigen Neil Andrew Megson und seinem Idol Jones samt dessen Bandkollegen. Erst nach diesem Augenblick, so Schütte, wurde der Künstler Genesis P-Orrigde möglich. Irgendwann begann Brian Jones, seinen kreativen Kopf mit Drogen, Alkohol und Sex lahmzulegen, um dann 1969 im eigenen Swimming-Pool zu ertrinken. Spätestens nach diesem tragischen Tod wurde Jones für P-Orridge zur lebenslangen Obsession, die er auf unterschiedlichste Weise zum Ausdruck brachte, etwa mit der 1988 veröffentlichten Single Godstar, dem einzigen Charterfolg von PSYCHIC TV sowie dem zugehörigen Videoclip. Das ambitionierte Projekt eines Dokumentarfilms, in dem P-Orridge beweisen wollte, dass Jones ermordet wurde, scheiterte am Geld. Und noch im fortgeschrittenen Alter präsentierte P-Orridge sich als Brian-Jones-Look-Alike mit blondem Haarschopf und Ringelpulli über seinen künstlichen Brüsten.
Schüttes ausufernder und kenntnisreicher Essay ist nicht nur Darstellung und durchaus kritisch-distanzierte Würdigung des Lebenswerks von Genesis P-Orridge, sondern zudem auch eine kurzweilig geschriebene Einführung in den okkulturellen Untergrund des 20. Jahrhunderts samt seiner – oft fatalen – Auswirkungen auf die Popkultur. Gewürzt ist das temporeiche Buch mit einer gehörigen Portion Humor, auch spart Schütte nicht mit sarkastischen Seitenhieben auf manches Phänomen der bundesrepublikanischen Gegenwart: GODSTAR wird dadurch umso lesenswerter. (M.Boss)
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