BRIGITTE KRONAUER : Das Schöne, Schäbige, Schwankende (BUCH)

Wenn man die Erlebnisse Einzelner aufklappt, entsteht ein breitgefächertes Panorama, das, so wie im Fall von Brigitte Kronauers „Das Schöne, Schäbige, Schwankende“ selbst innere Landschaften erkennen lässt. Sie nimmt in den Blick, was von einschlägigen Schreibern gerne mal übergangen oder gar zertrampelt wird. Gemeint ist hier der Grund einer Handlung, also weder die Handlung selbst und das Vorantreiben dieser, noch das Ornament um die Handlung herum. Ein damit gespickter Roman wäre über die beachtliche Distanz von über 600 Seiten sicher auch nicht mehr als nur öde. Ausnahmen gibt es, doch leider nur selten. Vor allem eben wegen der Handlung der meist vielen Figuren, deren genauere Beschreibung, die, ob ihrer Menge nur an der Oberfläche bleiben kann, weil die Handlung ja vorgeht und dementsprechend vorangetrieben werden muss. So wird ein Roman zur Ausdauerübung. Da bleibt kaum Zeit, um sich den Figuren zu nähern. Da fehlen deren Beweggründe und Gefühlslagen. Da widmet man sich der Beschreibung des Umfelds, um eben die Handlung fein auszuschmücken, oder mal eine kurze Pause einzulegen, also dem Rasanten die Eile zu nehmen. Sie, die Beschreibung ist dann der Füllstoff und soll es auch sein. Eine Art Material, das lediglich der Unterfütterung dient, damit die Geschichte groß und episch erscheint. Schon Peter Handke bemerkte zu Büchern, die voll davon sind: „Man sucht sein Heil in der bloßen Beschreibung, was von Natur aus schon das Billigste ist, womit man überhaupt nur Literatur machen kann.“

Bei Brigitte Kronauer fehlt genau das. Sie verfolgt keine Handlung. Sie schmückt auch nichts aus. Das, was bei den meisten Romanen eines der wichtigsten Bestandteile ist, lässt sie ganz einfach weg. Einen Plot gibt es in diesem Buch nicht. So laufen die vielen Handlungsstränge auch nicht zueinander und ergeben am Ende ein erzählerisch abgeschlossenes Ganzes. Bei Kronauer stehen die einzelnen Begebenheiten versprengt neben-, d.h. hintereinander.

Die Erzählstimme in diesem Buch ist eine Schriftstellerin, die sich dem, das sie so tut, verschrieben hat. Sie erzählt, hält sich zum Erzählten allerdings auf Distanz. Das heißt, sie erzählt nüchtern, beinah dokumentarisch von dem, was die Figuren bewegt. Hier und da wirkt das Beschreiben aus einer distanzierten Position heraus vielleicht überheblich, weil sie von oben beobachtet werden. Doch das ist Prinzip. Denn die Vogelperspektive erlaubt es, Risse zu entdecken, das Brüchige des Weit- und Lebensläufigen.

Die Handlung ist deutlich entschleunigt. Sie wird nicht über viele Seiten ausgebreitet, ist alles andere als langatmig. Sie ist reduziert, wird also nicht von allerlei Begebenheiten getrieben, oder von Abenteuern, die die Haupt- und die Nebenfiguren zu bestehen, d.h. durchzustehen haben. Hier wird im und vom Kleinen erzählt. Also aus dem Leben und nicht aus dem Nähkästchen geplaudert. Mit dem nötigen Tiefgang und dem Respekt vor den Figuren. Wozu dann eben auch die Unaufdringlichkeit gehört. Die Erzählerin beschreibt. In der ersten Instanz die auftauchenden Figuren, deren Charaktere sie in ihrer Vielfältigkeit an Vögel erinnern und in der zweiten von den Brüchen an den Lebenslinien dieser entlang.

Inhaltlich versucht nun Charlotte, die erwähnte Schriftstellerin und Erzählstimme in diesem Buch, dem Schreiben auf den Grund zu gehen. Im Haus eines Vogelkundlers will sie einen Roman schreiben. Doch wird sie, gleich nachdem sie eintrifft, von den an den Wänden hängenden Bildern, auf denen die unterschiedlichsten Vögel zu sehen sind, abgelenkt. Auch von den Stimmen, die von den Bäumen des Waldes in das Haus gelangen. So widmet sie sich nicht ihrem eigentlichen Romanvorhaben, sondern den Erinnerungen und Assoziationen, die sie zu den Bildern an den Wänden und Geräuschen aus dem Wald hat. Da sind die Gesichter von Freunden und Bekannten. Also die Schönen, Schäbigen und Schwankenden. Und von diesen berichtet sie dann.

Charlotte ist dann auch die eine Figur, die die einzelnen Episoden in Kronauers versammelten Romangeschichten verbindet. Sie erzählt mal in Ich-Form und mal in der dritten Person. Auch das Erzählprinzip wird von Charlotte genannt: Für alle Figuren gelten „drei Entwicklungsstufen, mit sehr unterschiedlichem Erfolg, je nach Abteilung“. Das Schöne meint den Aufstieg, das Schäbige den Absturz und das Schwankende steht für die Möglichkeiten dazwischen. Die einzelnen Geschichten dazu sind knapp, oft nicht mehr als zehn Seiten. Da wird eine Begebenheit, ein Erlebnis oder auch etwas, an das sich die jeweilige Figur erinnern kann, be-, vielleicht auch nur abgehandelt.

Natürlich gab es auch Kritik zum Buch. Etwa die an der ältlich wirkenden Sprache. Hierzu sei gesagt, dass die junge und flotte Sprache doch auch immer Auslassungen, Verkürzungen bemerken und den Eindruck des Geschwafels zurück lässt. Wenn Sprache etwas aussagen soll, dann in einer Form, die das, was gesagt werden soll, so wiedergibt, dass nicht nur ein eingeweihter Kreis versteht, worum es geht. Das wirkt dann in der Ausdrucksform vielleicht etwas konservativ und damit wohl gestrig, ist es aber nicht, sondern im Stande, korrekt abbilden zu können, was gesagt resp. geschrieben werden soll. Daran schließt auch gleich die zweite Kritik, die besagt, dass die Figuren aus den Romanerzählungen an denjenigen, die lesen, vorbeiziehen, keinen Eindruck hinterlassen würden. Da ist festzustellen, dass die vielen vorbeiziehenden Bekanntschaften, also die einem nicht so nahestehenden Personen, nun mal keinen sonderlich nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Das wiederum bildet eben nur die Realität ab. Wenn hier von einer Schwäche gesprochen werden kann, dann die manchmal schwer nachvollziehbaren Assoziationen, d.h. wann wo was anschließt, leuchtet manchmal nicht ein. Der längere zweite Teil etwa widmet sich einer Person, die in den kurzen Betrachtungen von Charlotte zwar hier und da auftaucht, was sie aber zur Hauptfigur des zweiten Teils werden lässt, bleibt offen. Vielleicht ist es aber gerade auch diese Form der Unvorhersehbarkeit, die dieses Buch so interessant macht. Kronauer bricht mit der Tradition des Romans, lässt diesen in seine erzählerischen Einzelheiten zerfallen. Bruchstücke bleiben. Also das, was nach dem Lesen übrig, in Erinnerung bleibt.

Dieses Buch hinterlässt Eindruck. Es birgt pointierte wie humorige Passagen, die sogar das Zeug dazu haben, als Aphorismus durchzugehen. Dazu kommt der Kniff der erzählten Erzählerin. Der Mittelbarkeit. Die erlaubt es, den Blick einerseits weit zu halten, andererseits bis in tiefe Erdschichten zu dringen.

Ein wundervolles, aber leider das letzte Buch, der am 22. Juli 2019 verstorbenen Brigitte Kronauer. (awk)

Format: BUCH
Vertrieb: KLETT COTTA