Selten hat mich ein musikalisches Projekt so schnell, so intensiv und so vielseitig in seinen Bann gezogen wie HIMUKALT, die ja schon lange kein Geheimtipp mehr ist. Welche Glück, dass Ester recht schnell und spontan zu einem Online-Gespräch bereit war, welches ihr hier lesen könnt.? Woher kommt der Name? Als Deutscher interessiert mich das vielleicht besonders, da „kalt“ im Deutschen ja etwas bedeutet, aber ich denke, auch Englischsprechenden haben evtl. diese Konnotation.
„Himukalt“ ist das estnische Wort für „lustvoll“. Ich dachte aber auch an die Ähnlichkeit zu dem deutschen Wort für „kalt“ und mochte es, wie die beiden in meinem Kopf verbunden waren, auch wenn die beiden Begriffe in der tatsächlichen Etymologie des Wortes nichts miteinander zu tun hatten. Das Wort habe ich in einem Estnisch-Englisch-Wörterbuch entdeckt, das ich in einem Gebrauchtwarenladen hier in Nevada gefunden habe. Ich hatte schon immer eine überbordende Fantasie und stellte mir vor, dass eine Mail-Order-Braut, die gehofft hatte, dem Übel in Estland zu entkommen, nur um dann ein anderes Elend in einem Bordell in Nevada arbeitend zu erleben, dieses Buch mitgebracht haben könnte. Oder vielleicht heiratete sie wirklich, irgend so einen Loser, der viel zu viel versprach und viel zu wenig einlöste. Es gab da etliche Szenarien in meinem Kopf, aber aber war die Besitzerin des Buchs eine Frau. Ich sollte auch noch erwähnen, dass ich furchtbar darin bin, Fremdsprachen zu lernen. Das bisschen Deutsch, Französisch, Estnisch usw., das ich kenne, sollte keineswegs so verstanden werden, dass ich in diesen Sprachen kommunizieren kann. Kann ich nämlich definitiv nicht.
? Ach, so, und ich dachte schon, du seist womöglich gar nicht in den USA geboren… Wie kamst du denn auf den Namen „ Ester Kärkkäinen“? Klingt schon ziemlich nordeuropäisch in meinen Ohren.?
Ja, Kärkäinen ist ein finnischer Name und es ist mein Pseudonym aus den Tagen als Stripperin. Ich wählte Ester als Bühnennamen und dann Kärkkäinnen als Nachnamen, als ich als HIMUKALT anfing. Meine Abstammung ist ziemlich „amerikanischer Mischling“.
? Warst du schon ein mal in Europa? Während ich die USA und den Rest der Amerikas faszinierend finde, denke ich manchmal, dass Europa, gerade was Noise und Gothic und solche Musik angeht, schon der beste Ort ist. Was bedeuten dir Europa europäische Musik?
Für mich bedeuten Europa und besonders die nördlichen Wälder den Ort, an dem ich zum Sterben gehen möchte. In den Schnee gehen und niemals zurückkehren. Aber, nein, ich war noch nie in Europa, noch nicht. Aber wenn ich hingehe, komme ich nie mehr zurück.
Ich seh da keinen großen Unterschied zwischen europäischem und amerikanischem Noise. Klar, ich erkenne Unterschiede in der Herangehensweise, den Konzepten und dem Inhalt, was ATRAX MORGUE, GENOCIDE ORGAN und MASTER/SLAVE RELATIONSHIP und PREMATURE EJACULATION angeht, aber sie sind mir alle gleich wichtig. Also, der Ort, wo etwas herkommt, ist mir gleich, es kommt darauf an, was ich empfinde.
? Vor allem deine ersten Veröffentlichungen haben viel mit Sex und Sexualität zu tun. Ich habe den Eindruck, da sind schon autobiographische Elemente zu entdecken. Möchtest du dazu etwas sagen?
Ja, die haben eine sehr deutliche autobiographische Qualität, aber HIMUKALT ist nicht die direkte Korrelation zwischen meiner fiktionalisierten Vergangenheit und meinem tatsächlichen Leben. Ich bediene mich da bei meiner Vergangenheit, meinen Träumen, meinen Fantasien, genau wie bei anderen Quellen, welche u.a. auch Texte, Bilder, Klänge und Videos beinhalten, aber nicht darauf beschränkt sind. Ich verdrehe das dann alles zu etwas, was außerhalb und parallel meines Privatlebens existiert. Und, ja, ich habe vor vielen Jahren als Stripperin gearbeitet, als ich mit einer Frau zusammen war, die da als Eskorte und Pornodarstellerin viel mehr involviert war. Sie beging 2014 Selbstmord. Das Trauma dieser Erfahrung dauert an, auch durch meine andauernde Besessenheit von ihr. Hat sie mich wirklich geliebt? Oder war ich nur ein emotionaler Sandsack, jemand, der ihren chemischen Missbrauch ermöglichte und hin wieder ihr Sexspielzeug war? Wie hat ihr Einfluss auf mich meine eigene Sexualität zu etwas Pathologischen verdreht? Solche Fragen gehen mir immer noch nach und beeinträchtigen meine Fähigkeit, gesunde Beziehungen zu haben. Es ist lange her, dass ich mit Sex Work zu tun hatte und und nun sehe ich, dass viele der Traumata, die ich als HIMUKALT anspreche, auf diese schlechten Entscheidungen und die armselige mentale Hygiene zurückgehen, die ich in den Jahren danach erlitt. Die Pandemie war da auch keine große Hilfe. Therapie hilft manchmal, bis sie es wieder nicht tut. Ich will nichts beschreien, aber momentan geht es mir viel besser – mental, emotional, psychisch – und in meiner aktuellen Beziehung durchforsten wir den ganzen Müll gemeinsam.
? Danke für diese sehr persönliche Antwort. Möchtest du uns auch etwas über deinen Alltag sagen? Welche Bücher und – Jhane kritisierte mich dafür, sie das nicht zu fragen – Filme magst du?
Ich habe einen Job. Ich bin mit einer Person zusammen, die ich sehr liebe. Ich mag es, mich in der Wüste zu verirren. Ich habe gerade damit angefangen zu schwimmen. Ich lesen, wenn ich dazu komme. Audrey Szasz ist meine Lieblingsschriftstellerin. Ich versuche es, schrottiges Fernsehen zu vermeiden, aber manchmal kann ich nicht anders.
? Ich vermute mal einfach, dass Noise und Industrial eine mehr oder weniger passende Musik ist, um einige deiner Erfahrungen zu verarbeiten. Hast du diese Art von Musik schon gehört, bevor du selbst welche gemacht hast? Welche Musik gefällt dir?
Aber sicher! Ich war besessen von PUCE MARY, ATRAX MORGUE, MARIA ZERFALL, PREMATURE EJACULATION, WHITEHOUSE, SPK, SHE SPREAD SORROW, MILITARY POSITION bevor meine erste Kassette erschien. Das FEJHED Tape im Besonderen war die Inspiration für mich, eine richtige Aufnahme anzufangen. Das war ein Gemeinschaftsprojekt von FREDERIKKE HOFFMEIER (PUCE MARY) und JESSE SANES (HOAX), das irgendetwas Voyeuristisches und sexuell Schmutziges hatte. Ich habe es schon gesagt und werde es sicherlich noch einmal sagen, ohne ihren Einfluss gäbe es mich so nicht, da sie mir die Erlaubnis gab, meine eigene Wahrheit auszusprechen. Interessanterweise fing ich ca. 2019, vielleicht früher, eine Korrespondenz mit HARRIET/MILTARY POSITION an. Wir hatten beide eine Vergangenheit, in der es um Sex Work geht, wir sind beides Frauen, die in derselben Noise.Szene unterwegs sind und wir verstehen uns richtig gut! Ich brachte das Thema Zusammenarbeit auf den Tisch und sie sagte begeistert zu, so begannen wir SCOPOPHILIA. Dieses Projekt ist schon deutlich rhythmischer als unsere eigenen Projekte, aber es ist immer noch richtig schön düster, noisy und sexuell finster. Wir haben Pläne für ein zweites Album.
? Oh, ja, PUCE MARY und FEJHED (und eigentlich alles, was Frederikke macht) sind super. Was mir aber bei deiner Antwort auffällt ist, dass du meintest, du brauchtest die „Erlaubnis“, deine eigene Wahrheit auszusprechen. Warum hast du das gedacht? Wie bekommt man, wie bekamst du, diese „Erlaubnis“?
Naja, ich hatte Probleme mit meinem Selbstbewusstsein und der Sicht auf mich selbst, das war z.B. ein Faktor, der mich zum Strippen brachte – und ich war sicher auch auf der Suche nach einem Thrill. Wenn ich auf diese Entscheidung zurückblicke, dann habe ich das betrachtet, wie wenn ich was im Supermarkt einkaufe. Es war unmittelbar und einfach, aber die Faktoren und Bedingungen, die mich dazu brachten, waren echt komplex und dazu gehörte eben auch das Gefühl, als hätte ich keine eigene Stimme etwas zu sagen. Aber ich konnte meine Klamotten ausziehen und mich auf der Bühne bewegen, da war etwas für mich zu tun. Es gab jedoch auch eine Menge Komplikationen: Drogen. Emotionale Abhängigkeit. Scheißtypen. Bitchy Frauen. Jeder dachte, er könne mich ausnutzen. Als ich also diesen Job verließ, fühlte ich mich ganz klein und unbedeutend. Dann aber jemanden zu hören, die ihre eigene Stimme und was ich für ihre eigene Erfahrung hielt nutzte, um auf brutal ehrliche Weise über weibliche Sexualität zu reden, das eröffnete mir die Möglichkeit, dies auch zu tun.
? Ich muss zugeben, bisher recht wenig von SCOPOPHILIA gehört zu haben, vielleicht erzählst du uns dazu noch etwas mehr? Sollte ich mir wohl möglichst bald zulegen…?
Wie gesagt, SCOPOPHILIA basiert auf wirklich schweren Sequenzern und programmierten Drums, dazu noch einiges an Noise. Der Name des Projekts bezieht sich auf die Kraft des Blicks auf den Körper einer Frau, der sie zu einem Sexobjekt macht. Wir haben das absichtlich umgekehrt und nun ist eine antagonistische Aktion weiblicher Wut, durch die Linse sexueller Perversion und Sucht. Musikalisch waren wir sicher daran interessiert, eine Schnittstelle zu schaffen, wo die emotionale Gewalt von ATRAX MORGUE auf die industrial Rhythmen in der Art von VATICAN SHADOW oder CLOCK DVA trifft. Ich liebe es, mit Harriet zu arbeiten, v.a. ihre Stimme. Während wir an dem Album arbeiteten, war es mein großer Wunsch, sie wie Sinan von SPK auf der „ Information Overload Unit“ klingen zu lassen. Harriet ist eine ganz wundervolle Frontfrau.
? Mein erstes Album von HIMUKALT war „Dreaming of a Dead Girl“, was ja auf Tesco erschienen ist. Wie kam es dazu?
Klaus kam auf mich zu und ich war schockiert und geehrt, es fühlte sich wie ein Kompliment an.
? Du bist ja auch visuell und in gewissem Sinn literarisch tätig. Hat das alles gleichzeitig begonnen? Wie hängt das miteinander zusammen?
Das Visuelle kam nach dem Musikalischen, quasi als ich Artwork für meine Kassetten brauchte. Ich arbeitete Nachtschicht in einem Motel mit einem kaputten Kopierer, der, egal, wie wenig Druckerschwärze noch drin war, Kopien ausspuckte, wodurch die Bilder ganz schön gruslig aussahen. Diese Maschine gibt es schon lange nicht mehr, aber ich hatte genug Texturen, um diese digital zu verwenden, zu reproduzieren und auszuschneiden. Die Parallelen zwischen visueller Reproduktion und Sexualität erschienen mir zu offensichtlich, um sie nicht zu verwenden. Aber mein Interesse in visueller Sexualität hat wenig mit Mainstream-Pornographie zu tun. Ich wollte rasiertes Schamhaar, gebleichte Arschlöcher und unrealistische Körper-Typen vermeiden und suchte emotionale/ private/ unbefangene Ausdrucksweisen weiblicher Sexualität. Zuerst fertigte ich nur solche unheimlichen, grobkörnigen Bilder von nackten Frauen an (manche zeigten mich, andere Models, mit denen ich gearbeitet habe, andere besorgte ich mir). Aber dann, als ich die Chance bekam, meine erste LP herauszubringen – Knife Through The Spine (Malignant, 2018) – entschied ich, dass ich eine Collage meiner Arbeit machen sollte. Lydia Lazarus, eine Collage-Künstlerin aus London, hat mich sehr inspiriert; und ich hatte sie auch gefragt, ob sie das Album-Artwork machen wolle, aber aus irgendwelchen Gründen klappte das nicht, also musste ich es selbst tun. Ich denke, das LP-Artwork ist schon etwas rau,aber ich mag die Ideen und Bilder darin. Diese Notwendigkeit war ein wichtiger Schritt für mich.
? Als ich mit FALSE MARIA gesprochen habe, erwähnte ich zu Beginn, dass ich sie durch dich kennengelernt hatte. Möchtest du uns etwas über deine Verbindung und Beziehung zu ihnen sagen?
FALSE MARIA. Ich liebe sie, verdammt nochmal. „Uncomfortable electronics“ ist eine sehr gute Beschreibung für das, was sie machen. Nicht immer durch Krach, sondern durch das Zusammenspiel von Jhane‘s Stimme und Texten, die so verdammt brutal sein können. Mit Tommy habe ich nur ein wenig korrespondiert, aber er scheint ein toller Mensch zu sein. Ich gebe zu, ich bin ein wenig eifersüchtig auf Tommy, weil er mit Jhane zusammenarbeitet. Aber Jhane und ich, meine Güte. Unsere Freundschaft ist tief. Sehr tief. Ich glaube, sie versteht mich besser, als ich mich selbst kenne. Sie ist eine mächtige Hexe, eine schöne Frau, eine wahre Sucherin des Glücks/ Genusses, eine Gefäß tiefer Traurigkeit und jemand, der tiefgründige Freude bringen kann, zumindest mir. Ich bin so verdammt dankbar, dass ich sie in meinem Leben habe.
? Na dann, wann werden du und Jhane (und Tommy?) mal musikalisch etwas gemeinsam machen?
Sie hat mich gebeten, etwas für ein Stück von FALSE MARIA beizusteuern und ich gab ihr ein paar Vocals und Rhythmustrack. Und ich bekam den Auftrag, einen Remix eines Tracks ihrer Kassette auf No Rent zu machen. Ich bekomme „Virtue“. Was für ein verrücktes Lied. Es wird mir eine große Freude sein, daran zu arbeiten. Und jenseits davon? Wir werden sehen.
? Hast du schon einmal live gespielt? Wie war es? Würdest du gerne?
Ich war nicht mehr auf der Bühne, seitdem ich eine Stripperin gewesen bin und habe kein Interesse daran, zurückzukehren.
? Inwiefern sind diese Arten der Bühnenpräsenz und ihr (aufdringliches?) Publikum vergleichbar?
Es gab da zwar einige grässliche Interaktionen mit Zuschauern, aber generell habe ich nichts gegen ein Publikum, das Live-Musik oder nackte Frauen, die sich an einer Stange reiben, sehen möchte. Vor allem, wenn die Leute respektvoll sind. Meine persönliche Erfahrung mit Vorstellungen sexueller Art und Live-Musik ist eigentlich eher positiv. Meine Probleme liegen eher in meinen eigenen Unsicherheiten und Ängsten. Ich habe nicht das Gefühl, ich müsse das noch mehr erklären.
? Ein harmlosere Frage zu Tonträgern: Wird das Album aus der „On Corrosion“ Box wiederveröffentlicht werden?
Ja, „Torn Asunder: The Half-Girl“ wird wiederveröffentlicht. Aber ich weiß nicht, wann genau. Es wird etliche Wiederveröffentlichungen geben. Die ersten beiden Tapes, eine CD-version von „Septic“ und eine 2LP-version von „Come October“. Wann und wo, da bin ich verschwiegen.
? Vielleicht eine zu persönliche Frage: Lebst du in Las Vegas? Wie viele andere kenne ich diese Stadt nur als Touristenattraktion. Wie ist das alltägliche Leben dort?
Ich kann der offensichtlichen Tatsache, dass ich in Las Vegas lebe, nicht entkommen. Ich bin dort im Herbst 2018 hingezogen und viel meiner Zeit dort wurde in der sonderbaren Zeit der Pandemie verbracht. Aber ja, es ist sowieso sonderbar dort, auch außerhalb der gierigen Exzesse der Casinos usw. Diese ständigen Übertreibungen infiltrieren ziemlich alles, das kann man echt nicht umgehen. Ich verbringe nicht viel Freizeit in der Stadt und niemals auf The Strip, außer ich muss. Die Wüste ist seit langer Zeit meine Heimat, mit ihrer Weite und grausamen Schönheit.
? Die Schönheit der Wüste.?
Der Duft des Salbeibusches nach einem Sommerregen ist berauschend. Die Farben der Landschaft – rot, orange, lila, braun, green – vor dem blauen Himmel flößen Ehrfurcht ein. Die Weite eröffnet so viele Möglichkeiten. Und all das kann dich leicht töten, wenn du es nicht respektierst und nicht aufpasst. Auf jeden Fall Wasser mitnehmen.
Viele Dank!!!
(flake)
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