Interview mit FALSE MARIA

Gibt es noch Neues im Noise? Dann doch immer wieder, und so war es für mich eine Freude, über soziale Netzwerke ein Projekt kennenzulernen, das vielleicht das Rad nicht neu erfunden hat, aber doch dafür sorgt, dass es es sich weiterhin gut und neuartig dreht. Hier sind also Jhane und Tommy von FALSE MARIA!

? Ich gebe zu, ich habe euch erst durch HIMUKALT kennengelernt, die euch mal erwähnt und völlig zurecht empfohlen hat. Was ist da genau die Verbindung?

J: Ich könnte mir keine bessere Art vorstellen, uns kennenzulernen als durch HIMUKALT. Tommy und ich bewundern beide alles, was HIMUKALT ist. Aber nebenbei gesagt: Ester liegt mir sehr am Herzen, wir sind uns verbunden, da wir beide vor den selben Dingen fliehen und durch unsere Stärke eine große Bewunderung für Sensualität haben. Wir verstehen vieles und sind gut darin, Stigmatisierungen und dunkle Orte, die andere gerne vermeiden, zu durchdringen. Wir haben eine Verwandtschaft und ich denke, wir würden beide zustimmen, dass wir froh sind, dass es uns gibt.

T: Da gibt es wohl nicht viel hinzuzufügen. Vielleicht, dass ich es herzerwärmend finde, dass wir so einen verwandten Geist in jemanden so Interessanten wie Ester gefunden haben.

 

? Der Name erinnert mich an PUCE MARY – eine weitere Interpretation oder Kritik an der Jungfrau Maria des Katholizismus?

J: Auch wenn wir beide theologisches Pathos lieben, liegst du hier falsch. FALSE MARIA bezieht sich auf „Metropolis“ von Fritz Lang. Tommy und ich teilen eine Liebe für Roboter und Replikanten. Ich könnte tagelang über die Gründe reden, diesen Namen zu wählen, aber ich überlasse es dir, diesen Essay darüber zu lesen, der das perfekt zusammenfasst: „The ‚Nature‘ of the Female Cyborg: Evidence of Will in the Mechanical Woman“ von Francesca C. Myman.

T: Wieder gibt es hier nicht viel hinzufügen. Auch wenn es womöglich erwähnenswert ist, dass, ob wir es merken oder nicht, Katholizismus und das Christentum allgemein eine sehr große Rolle in dem spielen, was wir machen, sodass der Name vielleicht eine Art retroaktive – rückwirkende – Verbindung zu unseren spirituellen Seiten hat.

 

? Femininität scheint bei FALSE MARIA ebenfalls eine große Rolle zu spielen. Das finde ich nicht nur interessant, es erscheint mir auch eine Art Kontrast oder ausgleichende Antwort zu  der „macho“ bzw. sadistischen Tradition à la WHITEHOUSE zu sein. Inwieweit ist FM eine bewusste Antwort auf die vor allem männlich dominierte Noise und Industrial Culture?

J: Tommy, nimm mir das bitte aus meinen schwachen, inkompetenten, weichen Lady-Händen. *grinst sarkastisch und lacht*

T: Ich glaube nicht, dass es notwendigerweise um Femininität geht. Wir müssen die Dinge durch eine neurodivergente, queere Linse betrachten, das mal zuallererst. Wenn es dann passiert, dass uns dies in Richtung Femininität zieht, dann okay, aber ich denke, was wir tun, ist geschlechtslos. Es geht weniger darum, was wir womöglich haben, sondern darum, etwas genau so darzustellen, wie es ist. Und das beinhaltet Trauma. Während es uns nie darum geht, jedem unser Trauma aufzudrängen, bin ich froh, dass es das ist, wo wir angelangt sind.  Es ist so etwas wie ein Gegengift zu den dominanten Trends. Versteh mich nicht falsch: Ich mag WHITEHOUSE wie wohl ziemlich jeder. Aber es scheint heutzutage einen Trend in der Noise Szene zu geben, demzufolge weiße, heteronormative, „hipster dudebros“ einfach auflisten, was sie Frauen alles antun würden, wenn Vergewaltigung legalisiert würde – und das dann Kunst zu nennen. Der Unterschied ist, diese Typen meinen es ernst. Es ist frauenverachtend und ekelhaft und scheiße und klingt wie das furchtbare Manifest eines „neckbeard“ [in etwa: „selbstgefälliger Laberer“, Anm. des Übersetzers] in dem Sinne von: „Frauen schulden uns ihren Körper“. Und dafür habe ich echt keine Zeit.

In der Noise/Electronic Musik, die wir hören, geht es viel um Liebe, mentale Gesundheit, Politik und queere Belange, und dort sollten uns die Leute verorten. Es soll nicht sexy oder erotisch sein. Unser „Sex Tape“ handelte nicht von gutem Sex, weißt du? Wir nennen es absichtlich „Uncomfortable Electronics“. Wir begannen, Musik nur als etwas zu verwenden, um mit Dingen umzugehen, die wir verarbeiten mussten, aber wenn es einem so vorkommt, als sagten wir „dies sind die ungefilterten Folgen unserer ekeligen Begierden“, dann ist das wohl so. Ich weiß es nicht. Aber sogar wenn wir es so offensichtlich machen, dass sexuell begehrt zu werden, das ist, was wir überhaupt nicht wollen, werden wir falsch verstanden. Immer noch bekommen wir Messages darüber, dass etwas, das Jhane gesagt hat, so heiß sei. Das letzte, was wir wollen, ist ein Fick. Wir schreiben nicht für diese Leute. Wir schreiben für sanfte, queere Leute. Wir schreiben für Freaks, Leute wie uns. Die, die uns finden sollen und von denen wir gefunden werden wollen, tun es, und damit hat es sich.

 

? Habt ihr Empfehlungen für Leute aus der Noise/ Industrial/ Electro- Szene, die sich für  Liebe, mentale Gesundheit, Politik und queere Belange interessieren?

J: Ja, all das, was auf unseren Compilations drauf ist. Das sind unsere Favoriten, was solche Sachen angeht. Wir sind von so vielen unglaublich talentierten Leuten umgeben und haben mit ein paar echt coolen Köpfen zusammengearbeitet. Auch sehr geschätze Künstler wie DAREA PLANTIN von DEATHSTENCH und BOB SMITH von MEET ON TITAN, die dankenswerterweise Zeit und Energie aufwanden, um unsere Visionen zu verwirklichen.

T: Ha! Ich will auch noch einige Namen name-droppen – wenn es um politischen Noise geht, ist NATURAL ORTHODOXY unschlagbar. Jedem, der es hören will, sage ich, wie sehr ich dieses Projekt liebe. Ich könnte ewig davon schwärmen, aber ich sage dir, wenn du sie nicht kennst: Schau nach! Lern sie kennen! Gib Geld aus! Du wirst es nicht bereuen. *Jhane nickt enthusiastisch* Ein anderes Projekt, das ich erwähnen muss, ist BURIAL WREATHS. Die gibt es nicht mehr, aber die Bandcamp Seite funktioniert noch. Ich werde immer und ewig von Joshuas elektronischem Output besessen sein. Es fing sehr noise-basiert an, dann wurde es zu dem, was er „passion electronics“ nannte und es war luftig und flächig und doch auch dicht und voll und man musste es mehrmals hören, um jeden Aspekt davon zu erkennen. Ich schwöre, ich spielte diese Tapes, bis sie kaputt waren! Sein späterer Output erinnerte mich mich sehr an frühe NOCTURNAL EMISSIONS, was offensichtlich ein sehr gute Sache ist. Die Veröffentlichungen von BW zeigten mir, dass du alle möglichen Spielarten von Musik machen und trotzdem einen wiedererkennbaren Stil haben kannst. Ich stelle mir gerne vor, unsere Veröffentlichungen seien ebenfalls so, aber das kann ich ja selbst schlecht beurteilen.

 

? Ich finde schon, dass ihr einen eigenen, wiedererkennbaren Stil habt. Wieso veröffentlicht ihr nur solche streng limitierten Sachen? Um Sammler (wie mich) zu reizen? Gibt es Pläne, auch andere Tonträger, nicht nur Kassetten, zu veröffentlichen ?

J: Wir sind arm. Noise Labels sind arm. Noise Fans sind arm. Wir wissen, dass die Leute genau solche Fans wie wir sind und ihr Geld für viele verschiedene Künstler/innen ausgeben wollen, wir sind da nur ein kleiner Teil des Markts. Andere Tonträger? Vinyl, ja bitte.

T: Am Anfang war es sicher, weil wir glaubten, dass nur unsere Freunde etwas von uns kaufen würden. Wir wollten nicht Dutzende von Demotapes übrig haben, die keiner will. Ich meine, sogar heute, wo wir auf einigen tollen Labels veröffentlicht haben (und an Sachen für andere tolle Labels arbeiten), manche können ein paar hundert Exemplare umsetzen, weißt du? Aber wir haben sehr begrenzte finanzielle Möglichkeiten und momentan geben wir alles, was wir verdienen, für gemeinnützige Zwecke aus. Also müssen wir wissen, dass wir die Kosten wieder reinkriegen. Wenn es mal nicht mehr nur darum geht, bringen wir vielleicht auch etwas in größere Auflagen raus. Yeah, wie J es sagte – es wäre super, wenn ein Label etwas von uns auf Vinyl herausbringen würde. Ich mag auch „lathe cuts“ sehr. Kleine schwere Scheiben mit super-limitiertem Noise.

 

? Lasst mich und uns wissen, wenn ihr wieder etwas veröffentlicht und es womöglich durch Crowd Funding finanzieren wollt! Vielleicht können sich ja ein paar arme Noise Fans zusammentun. CDs sind also nicht geplant? Was ja auch irgendwie cool ist. Da wir es vom Armsein und materiellen Dingen hatten: Wollt ihr uns sagen, was für Jobs ihr habt? Hat ja vielleicht etwas mit euren künstlerischen Interessen zu tun. Und, da J ein Essay empfohlen hat, welche Art von Literatur mögt ihr?

J: Keine CDs finde ich auch cool, denn wenn du bei jemandem zuhause bist und die haben viele Kassetten und Vinyl, das ist doch super! Ein Haufen CDs im Regal, das ist einfach weniger ästhetisch. Warum ich das so sehe? Weiß ich nicht. Ich würde auch niemals nie sagen. Wenn Tommy eine CD herausbringen will, bin ich dabei. Seine Entscheidungen sind immer gut.

Meine künstlerischen Interessen sind damit verbunden, dass ich mein Leben als Künstlerin lebe. Fast alle meiner Lieblingsschriften haben mit Queerness zu tun und sind auch queer geschrieben. Ich mag religiöse, philosophische und sci-fi Bücher, ebenso welche über Okkultismus und Mystik. Wie sieht es mit Filmen aus?!! Du fragst uns nicht, was für Filme wir mögen? Ich sag‘s dir trotzdem: Ich hasse Filmkomödien. Als Kind fand ich die vielleicht toll, aber momentan bin ich in meiner „dunklen Phase“. Ich hab keine Zeit für Schwachsinn. Horrorfilme machen mir keine Angst, aber ich mag sie, v.a. psychologischen Horror. Dokumentationen sind süß. Ausländische Filme sind fast immer besser als amerikanische. Ich verabscheue mit großem Budget gedrehte Superheldencomicfilme. Filme, die mit Tod, Selbstmord und Herzschmerz zu tun haben, sind meine liebsten. Je trostloser und trauriger, umso besser. Ich bin immer auf der Suche nach queeren Filmen, da fühle ich mich gut und sicher.

T: Ich arbeite im Bereich der geistigen Gesundheitsfürsorge, dabei belasse ich es mal. Je weniger ich über meinen Job rede, umso besser. Ich bin eine stereotypische Noise Person und sage, meine Lieblingsautoren sind JG Ballard und Yukio Mishima.

 

? Habt ihr jemals live gespielt bzw. wollt ihr das überhaupt?

T: Zusammen noch nie, nein. Ich würde sehr gerne, aber der Abstand ist einfach zu groß. Wir haben etliche enge Freunde auf beiden Seiten des Atlantik und wo auch immer wir unser erstes Konzert geben würden, wir würden einen Großteil von ihnen vermissen. Logistisch gesehen würde alles, was wir brauchen, in einen Rucksack passen. Aber ich denke, es geht um mehr als das.

J: Live wäre cool, aber ich bin genauso glücklich, ohne live zu spielen. Eigentlich bin ich eine Schriftstellerin und jemand, die ihre Erlebnisse durch Worte und konservierte Klänge archivieren möchte. Die Liebe und das Interesse, die uns entgegengebracht werden, finde ich großartig, aber das, was wir tun, ist nicht besonders aufregend anzusehen. Wir sind eher Erschaffer als Darsteller. Die echte Magie („magick“) geschieht im Hirn. Kommt in unser Hirn! *winkt wild wie ein Animateur auf der Kirmes* „Kommt nur herein!“ Andererseits wäre es bestimmt nett, einen Haufen heißer Babes zu sehen, die nur da sind, um einen live zu sehen.

 

? Hört sich an, als hätten ihr schon in anderen Projekten gespielt. Wollt ihr uns dazu etwas sagen? Wo kommt ihr musikalisch her? Und, es klingt für mich so, als wäre euer Problem gelöst, wenn ihr mehr als einmal live spielt, oder? Woran hängt es also?

T: Ich war Bassist in einer Metalband mit einigen guten Freunden, aber die sind alle erwachsen geworden, haben geheiratet und Kinder bekommen. Danach begann ich eine Band mit meiner Nichte und meinem Neffen, die sie ROBO PISS PATROL nannten. In der Richtung Post Industrial und Noise, aber durch die Ideen zweier Kinder mit einem furchtbaren Mundwerk gefiltert. Ich liebte das, aber meine Familie hat es schließlich verboten… meine Arbeit mit J ist alles, was ich momentan musikalisch mache.

Woran es hängt, weiß ich auch nicht so genau. Ich will wohl nicht einfach rumstehen und etwas von einem Loop Pedal oder einem Laptop abspielen. Wir haben noch nie über die visuelle Seite eines Liveauftritts nachdenken müssen, aber ich hätte schon gerne einen Fokus, der eben nicht einer von uns ist, der hinter einem Tisch steht.

 

? Ihr kommt zum Teil aus England, zum Teil aus den USA. Wie fing das mit FM an? Wir arbeitet ihr zusammen?

J: Tommy ist mein Noise-Ehemann und ich seine Noise-Frau. Wir haben beide einen wirklich tollen Musikgeschmack und eine ebensolche Sammlung. Wir wollten Musik machen, auf die wir stolz wären, hätten wir sie in unserer Sammlung.
T: Es war zunächst unsere gemeinsame Liebe für NOCTURNAL EMISSIONS, BOURBONESE QUALK, CURRENT 93 und LEGENDARY PINK DOTS, die uns dazu brachte, etwas zusammen schreiben zu wollen. Wir klingen überhaupt nicht wie diese Bands, aber denen gehören unsere Herzen. Wir kennen uns schon ziemlich lange und Musik zusammen zu machen erschien uns wie der nächste, logische Schritt in unserer Beziehung. Ich glaube, wir sahen in dem anderen etwas, dass wir auch in uns selbst erkannten. Unsere Methoden, wir haben da keine. Meistens probieren wie etwas aus und schauen, was passiert.

 

? Damit zusammenhängend und auch, weil ihr „schreiben“ und CURRENT 93 erwähnt habt und weil ja auch HIMUKALT Geschriebenes veröffentlicht: Wie wahrscheinlich ist es, dass ihr auch Literatur, etwas Geschriebenes, veröffentlicht, und damit den Worten und Texten mehr Ausdruck verleiht und nicht nur der Musik und dem reinen Klang?

J: Ich denke über ein Buch mit unseren Texten nach, ansonsten ist FALSE MARIA v.a. ein audiobasiertes Projekt. Tommy und ich sind beide Künstler und es macht uns Spaß, mit verschiedenen Medien zu arbeiten. FALSE MARIA ist unsere gemeinsame Kunst und wer weiß, wo es uns hinführen wir. Wir setzen unserer Kreativität keine Grenzen.

T: Mir gefällt die Idee eines Hefts, das manchen unserer Arbeiten beiliegen könnte, aber ich weiß nicht, womit wir es füllen könnten. Vielleicht könnte es Teil einer special edition sein, da könnten wir uns mal Gedanken darüber machen.

 

? Ich habe gerade auf Instagram gesehen, dass ihr schon wieder an etwas Neuem seid. Könnt ihr uns etwas darüber verraten?

J: Es kommt eine Compilation endlich raus, die wegen Covid und persönlicher, mentaler Gesundheitsprobleme lange verschoben worden ist. Auf unserem Constant Existential Crisis Label und es ist ein Feiern von Freunden und Künstler/inne/n, die wir bewundern, für einen wohltätigen Zweck. Andere große Sachen werden auch noch kommen, aber da lassen mal unseren Instagram Account, IG @01000110falsemaria01001101, darüber wachen.

T: Wir haben 2020 etwas für „Refuge“, eine UK-basierte gemeinnützige Organisation, die Opfer häuslicher Gewalt unterstützt, kuratiert und herausgebracht. Die Compilation, an der wir gerade arbeiten, ist für ORAM, eine NGO, die sich um LGBTIQ-Flüchtlinge und Asylsuchende kümmert. Dann gibt es noch einiges andere, was hoffentlich noch vor Jahresende fertig werden wird.

 

? Vielen Dank für dieses Interview und es sei noch erwähnt, dass mittlerweile sowohl das neue Tape „Kenneth“ als auch eine 2nd edition des „Sex Tape“ veröffentlicht worden sind. Am besten womöglich über Bandcamp zu beziehen.

(flake)

 

 

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