Wenn die Retrogardisten von LAIBACH sich anschicken, ein Musical zu komponieren, kann man kaum Wohlfühlklänge oder mitsingtaugliche Ohrwürmer erwarten, obwohl die Slowenen mit ihrer Bearbeitung des Filmmusicals The Sound of Music bewiesen haben, dass sie es durchaus verstehen, popkulturellen Edelkitsch in auch für eher robuste Ohren geeignetes Material zu verwandeln.Wir sind das Volk basiert auf Texten des 1995 verstorbenen DDR-Dramatikers Heiner Müller. Wie LAIBACH schöpfte Müller seine Stoffe aus der Geschichte mit ihrer nahezu unerschöpflichen Materialfülle, kombinierte vermeintlich Unvereinbares und schuf so neue Bedeutungs- und Erkenntnisräume. Ferner griff Müller auf die Werke anderer Autoren zurück, die er nach seinen Vorstellungen bearbeitete. So entstand auch das Stück Quartett, das auf dem Roman Gefährliche Liebschaften von Pierre-Ambroise-Francois Choderlos de Laclos zurückgeht. Für eine Aufführung von Quartett in Ljubljana schrieben LAIBACH 1984 die Bühnenmusik. Müller regte daraufhin eine Zusammenarbeit an, 1986 kam es zu einer Begegnung zwischen Band und Autor, aus der aber keine konkreten Projekte hervorgingen. 2019 schließlich lud Anja Quickert, die Geschäftsführerin der Internationen Heiner-Müller-Gesellschaft, LAIBACH zu einem Theaterprojekt nach Berlin ein, das im Februar 2020 uraufgeführt wurde.
Die CD (die LP-Veröffentlichung ist für den Juni angekündigt) haben LAIBACH neu eingespielt, ergänzt um Material, das nicht Teil der 2020er-Aufführung war. Nur bei drei Stücken handelt es sich um Live-Aufnahmen vom Premierenabend. Ergänzt um das Artwork ist so ein ganz eigenständiges Werk entstanden, das, eher Hörspiel als ‚Rock‘-Album, unabhängig von der Theateraufführung bestehen kann. Bei der Auswahl der Texte fällt auf, dass LAIBACH vielfach auf autobiographische Texte Müllers zurückgreifen, in denen dieser u.a. die Diskriminierungserfahrungen schildert, die er als Jugendlicher nach dem Umzug seiner Familie in eine mecklenburgische Kleinstadt machen musste sowie die Beziehung zu seinem Vater reflektiert (Der Vater, Im Herbst 197.. starb…). Das Schicksal eines Einzelnen wird so exemplarisch für die Verwüstungen, die die Mühlsteine der Geschichte in den Menschen hinterlässt. Überhaupt ziehen sich die Themen Tod, Gewalt und Vernichtung nahezu leitmotivisch durch das Album, gänzlich den illusionslosen Blick Heiner Müllers auf die Historie wiederspiegelnd. Als einen Lichtblick in dieser Düsternis kann man die Coverversion des Hans-Albers-Schlagers Flieger, grüß mir die Sonne betrachten. Losgelöst von den irdischen Begrenzungen ist es dem Piloten in seinem Flugzeug vergönnt, Momente der Freiheit zu erleben mit über die Erde hinausweisenden Perspektiven, die alles menschliche Wirken relativieren. Dieser Hoffnungsschimmer verlöscht jedoch, wenn man sich die Herkunft des Fliegerlieds vergegenwärtigt: es stammt aus Filmdrama F. P. 1 antwortet nicht, entstanden 1932, also am Vorabend des Dritten Reichs.
Ein weitreichendes Beziehungsgeflecht entfaltet das Artwork des Textbuchs. Dominiert wird es von Gottfried Helnweins Gemälden Epiphany I (Adoration of the Magi) und Epiphany II. Eine vermeintliche Maria präsentiert dort Männern in SS- und SA-Uniformen ihr neugeborenes Kind als kommenden Messias, womit religiöse Heilserwartungen in den politischen Raum übertragen und profanisiert werden. Des Weiteren verwenden LAIBACH ein Gemälde von Caspar David Friedrich sowie Fotos aus dem Dritten Reich und von der Uraufführung von Wir sind das Volk. In einem dieser Fotos fährt LAIBACH-Sänger Milan Fras aus dem Grab Heiner Müllers auf. Zitiert wird hier eine Szene aus Hans-Jürgen Syberbergs Film Hitler, ein Film aus Deutschland, in der Adolf Hitler dem Grab Richard Wagners entsteigt. Man kann dies durchaus als eine Verneigung LAIBACHs vor Heiner Müller als einem ihrer Ahnherren deuten.
LAIBACH treffen Heiner Müller: In Wir sind das Volk wächst zusammen, was schon seit Jahrzehnten zusammen gehört. Mit der Kollaboration über das Grab hinaus präsentieren LAIBACH ihr seit Jahren konzeptuell anspruchsvollstes Werk, das auch musikalisch absolut zu überzeugen weiß. Ein Meilenstein. (M.Boss)
Format: CD / LP |
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