Es ist schon eine unglaubliche Herausforderung: 2019 veröffentlichte Kristin Hayter alias Lingua Ignota mit „Caligula“ eines der besten und intensivsten Alben der letzten Dekade. Zwei Jahre später erblickte nun mit „Sinner Get Ready“ der Nachfolger das Dunkel der Welt. An eine Höllenfahrt wie „Caligula“ anzuschließen ist bei weitem keine einfache Aufgabe. Und sich durchzuhören genauso wenig. Man darf es schon verraten: der Versuch ist geglückt, Himmel, Hölle und das ganze Elend dazwischen vertont Hayter so großartig, wie wahrscheinlich nur sie es kann.Bereits im Titel wird der Einfluss des Christentums besonders deutlich. Jedoch nicht der einer Weltreligion, die Trost und Hoffnung spendet. Hier dominieren eher die christlichen Elemente, die Flagellanten und Exorzisten inspirieren dürften. Kataleptische Hände, die sich an einen Rosenkranz klammern, kranke Gospels die zum Himmel geschrien werden, Stigma-Wunden, aus denen schwarzes Blut sprudelt … die Assoziationswelt von „Sinner Get Ready“ lässt nicht an einen gnädigen Gott glauben. Die persönlichen Höllen der vorherigen Alben sind keinesfalls verschwunden, sondern in einen neuen, man kann ruhig sagen höheren Kontext übertragen.
Was allerdings wirklich verschwunden ist, sind die markerschütternden Power Electronics-Ausbrüche. Die sind eher Folk- und Blues-Elementen gewichen, immer wieder durchsetzt mit sphärischen Drone-Klängen. Leichtere Kost ist „Sinner Get Ready“ trotzdem nicht. Schon der Eröffnungs-Titel „The Order of Spiritual Virgins“ ist cineastische Endzeit-Musik par excellence, Industrial-Gospel, der vor Schuld und Bitterkeit trieft. In „I Who Bend the Tall Grasses“ schreit Hayter wie eine besessene Wanderpredigerin, begleitet von erdrückenden Orgelklängen. Dann natürlich gibt es mit „The Solitary Brethren of Ephrata“ oder „Perpetual Flame of Centralia“ wieder Songs in denen nur Stimme und Klavier dominieren, vermeintliche Ruhepausen, die ihren ganz eigenen Beitrag zur verstörenden Gesamtatmosphäre beitragen. Ganz in der Tradition der Appalachen-Musik kommen immer wieder Instrumente wie Banjo, Geige und Gitarre zum Einsatz, die manchmal weniger gespielt, sondern mehr aufs Rad geflochten werden.
Auch bei musikalischen Neuerungen hört man auf „Sinner Get Ready“ das, was Lingua Ignota seit jeher zu einem der genialsten Musik-Projekte der Gegenwart macht: die nervenaufreibende Vertonung der eigenen Traumata, plötzlicher Wechsel zwischen Ausbruch und Stille, vielseitiger Einsatz von Mitteln der unterschiedlichsten Stilrichtungen, die sich zu einem großen Gesamtkunstwerk vereinigen. Somit ist „Sinner Get Ready“ nicht nur ein rundum gelungener Beitrag zur eigenen Diskographie, sondern auch eines der besten Alben dieses Jahres. Eine musikalische und emotionale Tour de force! Gelobt sei der Herr!! (M.P.)
Format: CD / LP |