Es war Sommer 1987 in der DDR und zu später Stunde schickte Lutz Schramm in seiner Sendung „Parocktikum“ auf dem Jugendradiosender DT64 Ausschnitte aus dem damals aktuellen Album „Your Funeral… My Trial“ von NICK CAVE & THE BAD SEEDS hinaus in den Äther. Da diese Sendung im tiefsten Osten und bei uns im „Tal der Ahnungslosen“ (Sachsen) die einzige Möglichkeit war an „schräge“ Musik zu kommen, wurde sie immer gehört und meist auch komplett mitgeschnitten. Die für mich mich so ungewohnt schwer-schlingernden, wie dunkel-düsteren Klängen waren dann völlig anders, als man es von den schon bekannten Dark Wave-Combos wie THE CURE, THE SISTERS OF MERCY, BAUHAUS etc. gewohnt war. Trotzdem oder gerade faszinierten sie mich mit ihrer unruhig-gefährlichen Atmosphäre sofort. Nach dem Mauerfall standen dann natürlich die Platten von Nick Cave und seinen THE BAD SEEDS mit ganz oben auf meinem Einkaufszettel, was im Nachhinein vom Investment-Gesichtspunkt ebenfalls eine gute Entscheidung war. Insbesondere ist „Stranger Than Kindness“ vom Erstkontakt bis heute mein ewiger Lieblings-Song geblieben, dessen Text übrigens von seiner längst verflossenen Geliebten Anita Lane und die Musik von Blixa Bargeld stammt. Genau diesen Titel trägt jetzt ebenso das neue Buch von Nick Cave, welches gleichzeitig auch als Katalog für seine aktuelle Ausstellung in Kopenhagen fungieren kann. Obwohl solche musealen Anwandlungen ja meist Künstlern zu Ehren kommen, die ihren kreativen Zenit längst überschritten haben, kann man dies von Nick Cave jedoch keineswegs behaupten. Im Moment hat er, neben dem „Lockdown“-Solo-Live-Album „Idiot Prayer“, noch ein neues Album zusammen mit seinem THE BAD SEEDS-Kollegen Warren Ellis und dem bezeichnenden Titel „Carnage“ am Start. Darüber hinaus bessert er die Portokasse gerade unter anderem durch 100 Pfund teuren Polaroid-Kunstwerken mit Datumsstempel auf. Denn neben Sänger und Komponist war bzw. ist Nick Cave noch Schauspieler, Schriftsteller, Poet etc. und somit halt ein richtiger Künstler vom alten Schlag! Womit wir wieder beim vorliegenden Buch wären. Im schwergewichtigen „Kaffee-Tisch“-Format führt dieses querbeet durch seine gesamte Karriere, also von THE BOYS NEXT DOORS und THE BIRTHDAY PARTY, über THE BAD SEEDS hin bis zu GRINDERMAN. Neben reichhaltigen Auszüge aus seinen legendären Notizbüchern (oder auf dazu umfunktionierte Flugzeugkotztüten) sind in „Stranger Than Kindness“ auch bisher ungesehenen Fotos, gesammelte Artefakte, seltsamen Erinnerungsstücken, Zeichnungen und Cover-Entwürfe vereint. Obwohl alleine schon das Foto, wo er in einer winzigen Dachkammernische in Westberlin völlig derangiert auf seinem „Bett“ fläzt und umgeben von Chaos an seinem ersten Roman „Und die Eselin sah den Engel“ arbeitet, als Kaufgrund ausreicht, lädt auch sein niedlicher Liebesbrief an Anita Lane, die später über Nick Cave sagen wird, sie wünschte, sie wäre dem Kerl nie begegnet oder die mit Blut gezeichnete Bilder, selbstgemachte Bücher und absurde Flohmarktfunde (mysteriöse Haarlocken oder Kylie-Handtaschen) zum Erwerb ein. Letztendlich fehlen in diesem Sammelsurium-Reigen ja eigentlich nur noch seine benutzten Heroin-Spritzen. Das Ganze ist richtig wertig, wie prächtig aufgemacht und überaus interessant zu entdecken. Wobei der einzige Wermutstropfen ist, dass die deutsche Übersetzung nur als kleine A6-Broschur extra beiliegt. Für Nick Cave-Fans sind die üppig bebilderten 276 Seiten eine wahre Schatzgrube und welche mit einem Preis von 29 Euro dafür sogar noch relativ günstig zu erwerben ist. (Marco Fiebag)
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