„Es wird immer eine dunkle Seite der Popkultur geben!“ – Interview mit Prof. Dr. Marcus Stiglegger

Wer sich in den letzten dreißig Jahren in Deutschland innerhalb der Gothickultur herumgetrieben hat und mittlerweile ein akademisches Interesse an der Subkultur pflegt, parallel dazu seine schwarzromantische Seele auch in Film, Magazinen und den Dunklen Künsten befriedigt, dürfte in dieser Zeitspanne immer wieder auf den Namen Marcus Stiglegger gestoßen sein. In seinen Jugendjahren als Musiker, Redakteur und DJ in Deutschlands Szene-Clubs unterwegs, avancierte aus einem eingefleischten Gothic-Buben einer von Deutschlands renommiertesten Film- und Kulturwissenschaftlern sowie stolzer Repräsentanz der schwarzen Subkultur in der deutschmedialen Öffentlichkeit. Auch bei BLACK finden sich viele Bezüge zum Schaffen von Stiglegger, den ältere Semestern sicher noch mit seiner publizistischen Tätigkeit im Rahmen seines Mainzer Ikonen-Verlags verbinden dürften, den er bis 2012 aktiv betrieben hat und der heute archivarisch online besucht werden kann. Neben dutzenden Veröffentlichungen in Filmfachzeitschriften, Sammelbänden und Filmografien, Audiokommentaren für DVD/BluRay-Veröffentlichungen hat er jüngst seinen bis dato persönlichsten Essayband „SCHWARZ – Die dunkle Seite der Popkultur“ veröffentlicht (Martin Schmitz Verlag). Selbstverständlich müssen wir Marcus Stiglegger an dieser Stelle zu seiner Veröffentlichung gratulieren – gleichzeitig auch zu seinem 50. Geburtstag, den er dieser Tage feiert. Ein Mann, der viel zu sagen hat und die abseitigen Seiten der Popkultur kennt wie kaum ein Zweiter. Ein erfreulicher Anlass, den in Mainz lebenden, stets adrett gekleideten Gentleman mal wieder zum Interview zu bitten. 

? Hallo Marcus, welche grundsätzliche Idee und Motivation steckt deinem Buchkonzept von SCHWARZ zu Grunde? Du schreibst in der Einleitung, dass du zehn Jahre bis zur Veröffentlichung daran gearbeitet hast. Zugleich ist es dein bis dato persönlichstes Buch geworden. Was war der Anlass erst 2021 das Thema aufzubereiten nun im Februar zu veröffentlichen?

Marcus Stiglegger: „Im Februar 2021 bin ich ein halbes Jahrhundert alt. Zu einem solchen Datum überdenkt man schonmal das eigene Leben, was man mal wollte und was man letztlich erreicht hat. Auch die aktuelle Pandemiesituation befördert bei mir solche Reflexionen, und die unerwartet reichliche Zeit, die mir meine aktuelle Lebenssituation bietet, nutze ich vor allem zum Lesen, Schreiben, Sichten und Hören. Aus diesem Nachdenken entstand die Idee, zu meinem Geburtstag eine solche Bestandsaufnahme zu veröffentlichen. Und zu meiner großen Freude hat sich Martin Schmitz bereits auf der Buchmesse 2019 bereit erklärt, ein solches Projekt in seinem Verlag zu veröffentlichen. Bisher habe ich dort drei Bände mit persönlichen Filmessays herausgebracht, nun geht es inhaltlich auch um Musik, Mode und Politik.“

? Sprechen wir zuerst über die Musik und dazugehörige Subkultur. Du gehörst zu den Szene-Experten, bist selbst leidenschaftlicher Anhänger und aktiver Mitgestalter. Wie definierst du deiner Wahrnehmung nach die Schwarze Szene anno 2021, in der du dich bewegst? Und welche Rolle spielen dabei jüngere, nachkommende Generationen?

„Ehrlich gesagt beschränkt sich meine Wahrnehmung der schwarzen Subkultur in den letzten Jahren mehr und mehr auf die sozialen Medien und einige gute Freundinnen und Freunde aus unterschiedlichen Generationen. Auch einige meiner Studenten sind dabei. Während Musik und Mode zweifellos seit 2000 immer mehr in den Bereich popkultureller Verfügbarkeit und Vermarktung übergingen, ist ja eine Aufsplitterung zu bemerken, die oft unversöhnliche Subgenres hervorbringt – die sich zudem aktiv gegenseitig ignorieren. Das war um 1990 natürlich anders, als Gothic Rock, EBM, Industrial und Apocalyptic Folk gleichermaßen in den Clubs liefen. Das hat sich weit entfernt, und die Subgenres beeinflussen sich kaum noch gegenseitig. Dafür sind viele Spielarten dazu gekommen. Wenn wir aber von einer grundsätzlichen schwarzen Subkultur sprechen wollen, gibt es da sicher noch Nachwuchs – im ernsthafteren Sinne der Tradition einer „gothic culture“, wie sie sich von der Literatur des 19. Jh. über den klassischen Horrorfilm, NICO und JOY DIVISION bis heute entwickelt hat, gibt es da meiner Wahrnehmung nach nicht allzu viel. Umso erfreuter war ich, dass sich doch einige Menschen Anfang 20 für mein Buch interessiert haben und mir dazu positive Rückmeldung gaben. Privat kultiviere ich für und in meinem Freundeskreis alles, was mich interessiert, kontinuierlich weiter: Musik, Okkultur, Mode. Meine Welt bleibt ästhetisch schwarz, mit oder ohne Nachwuchs…“

? Gelegentlich habe ich das Gefühl, dass abseitige Themen jeglicher Art gesellschaftlich wieder mit mehr Ablehnung verbunden sind, obwohl wir in westlichen Hemisphären mit (sexueller) Aufklärung, Freiheit, Meinungsäußern und Bildung gesegnet sind. Würdest du mir hier zustimmen und (d)einen Unterschied zu den „glorreichen 80ern“ skizzieren?“

„Ja, obwohl viel mehr aktuell verfügbar ist, hat sich die öffentliche Wahrnehmung massiv verändert. Das hat zweifellos mit dem politischen Klima zu tun, das misstrauisch bis paranoid geworden ist – und zwar auf allen Seiten. Was in den 1980ern als künstlerischer Ausdruck legitim war, wird heute mit Argwohn betrachtet: Statt Grenzen und deren Überschreitung auszuloten, wird eher darauf geachtet, die gesellschaftlichen Erwartungen zu erfüllen und keine Tabus zu brechen. Wir werden erleben, wie einige Musikerinnen und Musiker der Vergangenheit eine Neubewertung erfahren und nicht mehr an ein jüngeres Publikum vermittelbar sind. So werden möglicherweise zukünftige Generationen nicht mehr nachvollziehen können, was in der Punk- oder Industrialculture einst zu sehen war: Sid Vicious’ Hakenkreuzshirt, Whitehouse’ uneindeutige Bezüge zur Pornografie, Joy Divisions Benennung nach dem KZ-Bordell von Auschwitz, Throbbing Gristles ‚Zyklon B Zombie’, Boyd Rice’ Uniformen. Auch der Rock’n’Roll-Lifestyle ist keine Ausrede mehr für übergriffiges Verhalten (siehe die aktuelle Diskussion um MARYLIN MANSON). Auf all das ändert sich die Perspektive hin zu einer Kultur des Misstrauens und der Denunziation. An diese Stellen werden eher unverfängliche, banale und konsensuelle Phänomene treten. ‚Edgyness’ kommt dann nur noch als leere Geste vor, während eine weltanschauliche Motivation komplett suspekt erscheint. Alles, was ‚transgressiv’ an der schwarzen Subkultur war – von BDSM bis hin zu antimodernen Tendenzen – wird sich tief in den Untergrund zurückziehen, um permanenten Anfeindungen zu entgehen. Die gegenwärtige Ausnahmesituation und Krise beschleunigen diese Tendenz einer oberflächlichen Gleichschaltung. So sehr ich diese Bands selbst schätze: Der Erfolg von Projekten wie WARDRUNA, AMENRA und SUNN O))) ist gerade ihrer Uneindeutigkeit und letztlich weltanschaulichen Harmlosigkeit zu verdanken, in die alle ihre persönlichen Ideen hineinprojizieren können. Das ist klug, wenn es um Vermarktung geht, und die hohen Chartplatzierungen von Wardruna geben dieser Tendenz recht.“

? Selbstverständlich ist Nostalgie immer mit romantisierenden Gefühlen verbunden. Auch wenn wir uns heute durch die Corona-Pandemie in einer globalen Krise befinden, gab es dieses Phänomen in den 80ern in ähnlicher Form. Du schreibst in SCHWARZ, dass du als Teenager stark von einer apokalyptischen Angst zu Atomkriegen geplagt warst, die sich in deiner Szenezugehörigkeit, Mode und Musikkonsum definiert hat und die Stimmung der 1980er mitprägte – dann kam 1986 Tschernobyl. Dennoch scheinen gegenwärtig musikalisch andere Themen zu dominieren. Welche sind das?

„In gewisser Weise leben wir aktuell in einer apokalyptischen Situation, radikal in unsere Privatheit verbannt, im ‚Lockdown’, unser Leben findet vor allem virtuell statt. Draußen droht eine unkontrollierbare Mutation, die unser Leben noch viele Monate bestimmen wird. Es wird vermutlich keine Rückkehr zu der vorherigen Normalität geben: u. a., weil viele Institutionen erst wieder neu aufgebaut werden müssen, von Clubs über Konzerthallen bis zu Kinos. Da werden grenzüberschreitende und risikoreiche Konzepte nicht die ersten sein, die eine Bühne bekommen. Von daher findet weiterhin vieles im virtuellen Raum statt. Wenn man so will, leben wir in einer apokalyptischeren Situation als in den 1980ern, weil sie damals viel abstrakter war: Weder eine Bombe noch die Radioaktivität des Regens waren ‚sichtbar’ in unserem Alltag. Gegenwärtig leben wir jedoch in einer Welt der Masken und gegenseitigen sozialen Distanzierung. Wer von seiner Kunst lebte, wird das zum großen Teil nicht so weiter praktizieren können. Existenzielle Fragen sind heute auch für den Mittelstand viel merklicher. Daher ist unsere Zeit heute – so weit würde ich gehen – viel unsicherer und brutaler als in den 1980ern. Damals formulierte man die Warnung vor der Apokalypse, heute muss man auf apokalyptische Zustände reagieren, vor allem auch in der Kunst. Und die Möglichkeiten werden enger, der Neid und die Frustration größer.  Die Themen sind sicher in mancher Hinsicht konkreter: Ökologie, Entfremdung, Depression und Hass sind virulenter. Doch es ist nicht zufällig, dass viele Bands den Sound der 80s rekonstruieren, denn er drückte bereits jene Verlorenheit aus, die wir damals ahnten und die wir heute erleben.“

? Okkulte Thematiken und Beschäftigung mit ebendiesen waren in den 60er/70er-Jahren im Bereich der Rock- und Heavy Metal-Musik omnipräsent. Heute hat man oft das Gefühl, dass sich Bands dadurch nur noch ein bestimmtes Image verleihen und die ernsthafte Beschäftigung damit nicht mehr gegeben ist. Gleichzeitig verzeichnet esoterische Literatur einen Boom im Büchermarkt. Glaubst du, dass okkulte Themen, Praktiken, das Interesse für Schwarze Magie, Wicca etc. wieder eine verstärkte Sehnsucht nach Eskapade in diesen technologisierten, kapitalistischen Zeiten darstellen? Und gibt es moderne Okkultisten, die du an dieser Stelle empfehlen kannst – gerne aber auch Namen, die eine Relektüre verdienen.

„Oberflächlich betrachtet kann man von einer Renaissance der Okkultur der 1960er und 1970er Jahre sprechen. Vor allem auf Musikfestivals, die sich mit Doom- und Blackmetal beschäftigen, ist diese Tendenz in Selbstdarstellung und Symbolik sehr populär. Doch wie oben erwähnt geht es dabei um eine bestimmt diffuse Geste, die eine Sehnsucht nach Tiefe und Bedeutung im Publikum triggert, ohne zu konkret zu werden. Meist bleibt es beim Gestus, wenige Bands liefern einen weltanschaulichen Kommentar zu ihrem Werk. Okkulte Ikonografie ist so eine ästhetische Form, die eher als Fluchtfantasie dient. Das mag ebenso für entsprechende Literatur gelten. Ich selbst schätze es, wenn sich Künstlerinnen und Künstler zu ihrem Werk differenziert äußern, doch es ist selten, und oft ist es gerade eine Strategie, nicht zu konkret zu werden, um nicht einen Teil des Publikums zu verlieren, der in ‚seiner’ Band eine bestimmte okkulte, spirituelle oder politische Haltung reflektiert zu sehen glaubt. Gerne möchte ich drei aktuelle Bücher zum Thema empfehlen: Eugene Thacker ist ein Philosoph, der in „In the Dust of this Planet“ beginnt, Apokalyptik und Okkultismus am Beispiel von Musik, Filmen und Literatur zu diskutieren. Persönlich fühle ich mich Rüdiger Sünners neuem Film und Buch „Das wilde Denken“ nah, in der er schamanische Spiritualität in der Geschichte und Gegenwart diskutiert. Und wer sich mit traditioneller Spiritualität beschäftigt, kann in Mark Sedgwicks „Gegen die moderne Welt“ interessante und kritische Ansätze finden.“

? Ein Kapitel deines Buches thematisiert „Schwarze Mode“ mit dem Untertitel „Fetisch, Eleganz und Begehren“. Auch hier muss beobachtet werden, dass früher der Hang zur Extravaganz im Alltag (auch im Mainstream) stärker war, während heute eine Uniformierung an Dresscodes gilt. Seit große Modemarken extravagante „Black Fashion“ anbieten ist es mit der Individualisierung ohnehin passé – gleichzeitig betont jeder seinen Hang zur Individualität.

„Individualität muss heute erkämpft werden, ist aber in aktuellen Diskurs zu einer reinen Behauptung oder Phrase verkommen. Kollektivität scheint mir da realistischer, denn im Schutz lebt es sich ruhiger und sicherer. Radikale Individualität in der Mode oder als Lebensentwurf wird zu Risikofaktor für eine Gesellschaft, die eher die Anpassung propagiert. Eine Sehnsucht nach der verordneten Ruhe kollidiert mit einem ebenso kollektiven Wahn des selbstzweckhaften Widerstands, den man in der QuerdenkInnen-Bewegung feststellt. Echte Individualität ist harte Arbeit, jeden Tag, erzeugt existenzielle Unsicherheit und Widerstand der Gemeinschaft. Dabei ist die Individualrevolte weiterhin die Bedingung für herausfordernde Kunst. Aber der Gegenwind wird definitiv schärfer.“

? Wo verortest du das gegenwärtig angestaubte Genre Gothic Rock (stilprägend mit Bands wie Bauhaus, Joy Division, The Cure, Siouxsie and the Banshees, Fields of the Nephilim) heute? Gefühlt beschäftigen sich wieder viele Menschen mit den alten Ikonen, ohne neue Helden dieser Klasse hervorzubringen. Irre ich mich? Es ist zum Beispiel spannend zu beobachten, dass gerade im krisengeplagten, südeuropäischen Raum ein verstärktes Interesse und Faible zu „Dark Wave“ zu beobachten ist, wenn man sich Länder wie Italien (ASH CODE, CORDE OBLIQUE), Spanien (Triángulo de Amor Bizarro ), Griechenland (SELOFAN) oder der Türkei (SHE PAST AWAY) anschaut. Also allesamt Ländern, in denen die „Teenage Angst“ quasi schon in der DNA liegt. Die Zukunftsaussichten eher desillusierend und die schwarze Szene somit nach wie vor ein passendes Ventil zum Ausleben der pessimistischen Lebensrealitäten, während hierzulande vor allem der Osten Deutschlands nach wie vor stark „schwarz“ geprägt ist.

„Gothicrock ist meines Erachtens ein musikhistorisches Phänomen der 1980er Jahre, das zwischen 1980 und 1990 eine bestimmte ästhetische Form hervorgebracht hat, die der Stimmung jener Jahre Rechnung trug. Stilistisch hat das bis in die Metalszene hineingewirkt, wo man etwa bei BEHEMOTH oder WATAIN deutliche Zitate des Gothicrocks findet (u. a. in der Präsenz von Carl McCoy/Fields of the Nephilim als Gastsänger). Zeitgemäß erscheint mir dieses hybride Weiterleben durch die Vermischung mit anderen Genres. Zudem müssen wir bedenken, dass in den 1990er Jahren der Gothicrock bereits in kommerziellen Popvarianten wie HIM weiterentwickelt und vermarktet wurde. Es ist mir bewusst, dass es in südlichen Gefilden (übrigens auch in Lateinamerika) ein nostalgisches Aufleben der ästhetischen Form des Gothicrock gibt, doch ist das wirklich prägend und einflussreich? Ist das nicht einfach ein Retrophänomen?

Im Westen Deutschlands sehe ich keinen Einfluss dieses Stils und von härterer oder düsterer Rockmusik grundsätzlich. Abgesehen von Rammstein und der weiterhin vital in sich existierenden Metalszene ist diese Stimmung doch längst in die Popmusik eingesickert und schimmert in Videos von BILLIE EILISH ebenso auf wie in der Darktechno-Kultur, die mit dem Berghain-Club verknüpft ist bzw. war. Der Osten Deutschlands funktioniert da etwas anders, denn dort galt diese Musik schon immer als Alternative, als Geste des Widerstandes gegen die Missstände des aktuellen Lebens. Es ist daher bezeichnend, dass die meisten schwarzen Festivals noch immer dort stattfinden bzw. aktuell geplant sind. Auch mein Buch hat von dort eine starke Resonanz.“

? Als 50-jähriger Kulturwissenschaftler bist du nach wie vor nah am Geschehen, kannst einen tieferen Einblick in heutige Jugendsubkulturen geben. Was ist heute anders, verglichen mit deiner Adoleszenz? Subkulturen in klassischer Form sind längst aufgebrochen, vermischen sich. Jugendliche suchen sich das Beste aus allen Musikgenres aus und definieren sich immer seltener und nicht mehr zwingend mit unverkennbar klar darstellenden Symbolen und Dresscodes.

„Wie bereits erwähnt, ist eine Aufsplitterung offensichtlich, die unversöhnlichere Gruppen erzeugt. Zugleich scheint vieles einfacher verfügbar: Musik zum direkten Download, Videos auf Youtube, Mailorder für schwarze Mode. Aus meiner Generation oft erzählt: Auch ich musste mir vieles damals selbst basteln (Kleidung), musste weit fahren, um manche Platten zu kaufen oder stundenlang auf der Autobahn verbringen, um ein Konzert zu besuchen. Das bindet einen doch sehr stark an die subkulturelle Identität. Es prägt, wenn man zweimal im Jahr teuer nach London reist, um dort Clubs und Läden zu besuchen. Aber was ich doch feststelle: Ich und meine Generation hat sich voller Stolz immer selbst stigmatisiert. Man wollte unbedingt einer bestimmten Strömung zugerechnet werden. Dafür hat man weder Kosten noch Schmerzen gescheut. Heute gibt es mehr Tattoos und Piercings denn je, doch diese Kultur wurde inzwischen zu einem Geschäft, das Gesonderte ist kaum mehr eindeutig zu identifizieren. Und ich habe das Gefühl, viele wollen sich nicht mehr festlegen, haben geradezu Angst vor einer eindeutigen Zuordnung, da diese gegen sie ‚verwendet’ werden könnte. Das kannte ich damals, nicht, und es war zweifellos risikoreich als ‚Goth’ durch bestimmte Viertel zu gehen. Es gab immer jemanden, der sich von Undercut, Tattoos, Stiefel, Lederjacken und okkulten Symbolen provoziert fühlte. Und gerade in Deutschland wird im akademischen Kontext eine subkulturelle Identität meist verschleiert – das ist etwa in England anders, wo jede Menge Goths an der Uni arbeiten.“

? Neben deinen publizistischen Tätigkeiten bist du musikalisch mit deinem Neofolk/Dark Americana-Projekt MARS und dem Dark Ambient-Projekt VORTEX aktiv, welche wir bei BLACK bereits rezensiert und ein Forum geboten haben. Kannst du uns an dieser Stelle einen status quo dieser Projekte geben?

„Für mich ist die Musik der wesentliche Kontakt, der mit der schwarzen Subkultur geblieben ist. Das war nie geplant, sondern entspringt einer persönlichen Notwendigkeit. Musik zu erschaffen, ist in der gegenwärtigen Isolation wichtiger denn je für mich. Und ich freue mich, dass ich immer wieder gleichgesinnte KünstlerInnen gefunden habe, die den Weg mit mir weitergehen. Noch aktuell ist mein letztes Musikvideo zusammen mit VORTEX und LAMIA VOX, dass ich im Übrigen sehr gothic finde. Dieses entstand zum letzten VORTEX-Album ‚Helioz’ (erschienen auf dem französischen Label Cyclic Law). Gerade schließe ich die Arbeit an einem gemeinsamen Album mit der Ritualband NAMKHAR ab, das als ‚Nag hammadi’ auf dem niederländischen Winterlight erscheinen wird. Dort geht es um die apokryphen Texte des frühen Christentums. Hier setze ich meine Reise in die archaischen Mythologien fort. Und zudem arbeite ich mit meinem MARS-Mitmusiker Oliver und dem Wiesbadener Musiker Bergemann an einem neuen Stummfilmscore, der 2022 als Vinyl auf Cyclic Law erscheinen soll. Damit planen wir wieder Livedarbietungen vor der großen Kinoleinwand, wie zuletzt bei der Vertonung von Carl Theodor Dreyers Horrorfilm VAMPYR von 1932.“

? Abschließend noch eine Prognose deinerseits: Wird die dunkle Seite der Popkultur eine Zukunft haben?

„Es wird immer eine dunkle Seite der Popkultur geben. Das schließe ich daraus, dass es auch vorher so war. Ob die konkrete Form jene der schwarzen Szene sein wird, die wir heute kennen, muss man sehen. Angesichts der Retro-Tendenzen geht ja nichts wirklich verloren. Doch eine Entwicklung ist wichtig und positiv. Was früher Gothicrock und Industrial war, wurde später EBM, Mittelalter und Neofolk. Heute sehen wir diese Formen verstärkt im Postrock oder Post-Blackmetal. Wen ich früher bei FIELD OF NEPHILIM vor der Bühne traf, sehe ich heute bei WIEGEDOOD, CHELSEA WOLFE oder GAAHL´S WYRD. Wer früher DEAD CAN DANCE hörte, schwört nun auf WARDRUNA. Das alles bleibt im Fluss, und die Essenz war schon immer rar, aber sie ist zweifellos noch immer vorhanden.“

? Wir wünschen dir weiterhin viel Inspiration, Leidenschaft und aktive Mitgestaltung in Form kommender Buch- und Musikprojekte und bedanken uns für das Interview!  (Dimitrios Charistes)