CURRENT 93 – The Light Is Leaving Us All

Während Current 93 in der ersten Hälfte der 2010er Jahre neue Alben fast am Fließband produzierten, hat sich David Tibet für den neuesten Longplayer seines musikalischen Hauptprojekts mehr Zeit gelassen: fünf Jahre sind seit I Am The Last Of All The Field That Fell vergangen, und der Seher aus Hastings war in dieser Zeit alles andere als untätig. So gründete er gemeinsam mit dem Killing-Joke-Bassisten Youth die Formation HYPNOPAZUZU, die mit Create  Christ, Sailor Boy ein fulminantes Debut ablieferte. Unter dem Label ZU93 kam es zu einer Zusammenarbeit mit dem italienischen Instrumentalensemble ZU, die in dem psychedelisch-surrealen Album Mirror Emperor mündete, einem Crosover von Neofilk und Kammermusik. Ferner widmete Tibet sich auch weiterhin der Malerei, seinen koptischen Studien sowie verschiedenen verlegerischen Projekten

Das Licht der Welt, das The Light Is Leaving Us All jüngst erblickt hat, ist seit 2013 düsterer geworden. So ist es eine hinterhältige Falle, wenn Current 93 ihr neues Opus mit den von Thomas Ligotti vorgetragenen Versen „The Birds are sweetly singing…/ the birds are softly singing“ beginnen lassen: die Idylle, die hier evoziert wird, gehört einer Vergangenheit an, die längst vergessen ist. Und die über das gesamte Album verteilten Samples von Vogelstimmen erwecken zwar den Eindruck, als sei es in der unbeschwert-heitereren Atmosphäre von Tibets Garten eingespielt worden, die Lyrics entführen den Zuhörer jedoch schnell in eine Welt des latenten Grauens, in die jederzeit ein fallender Stern stürzen kann. So entwirft etwa The Policeman Is Dead eine Szenerie des nie erklärten, dafür permanenten Ausnahmezustands voller Gewaltandrohungen, in der es keine Sicherheiten mehr gibt und alle Zufluchten versperrt sind. In einigen Tracks, vor allem aber in Fair Weather, beschwört Tibet seine Zuhörer in direkter Anspielung auf das Matthäus-Evangelium, die Zeichen der Zeit richtig zu deuten, gleichgültig, ob sie in den Sternen oder im Teesatz stehen: ein roter Himmel am Abend kann, muss aber nicht gutes Wetter für den nächsten Tag versprechen; wer die Zeichen missdeutet, muss mit fatalen Folgen rechnen. Leitmotivisch zieht sich die Phrase The Light Is Leaving Us All durch das gesamte Album: das Licht der Erkenntnis verschwindet ebenso wie das Licht der Wahrheit, die Welt verfinstert sich, die Seelen erkalten.

Waren die letzten Alben von Current 93 geprägt von einem eigenwilligen Neo-Prog-Rock, bei dem kreischende Gitarren und entfesselte Pianos das Klangbild bestimmten, wird The Light Is Leaving Us All von ruhigeren Tönen bestimmt, die sich stilistisch nur schwer einordnen lassen: die akustischen Gitarren von Alasdair Roberts treffen auf die Violine von Aloma Ruiz Boada, abgerundet wird der Sound durch ein zurückhaltend eingesetztes Piano, ein Theremin und verschiedene Glöckchen. Auf vermeintlich innovative Noiseeffekte und Industrialelemente verzichten Current 93 weitgehend, nur The Postman Is Singing und The Kettle’s On durchbrechen die insgesamt sehr ruhige Atmosphäre von The Light Is Leaving Us All: musikalisch fühlt man sich zurückversetzt in die Zeit von Of Ruine Or Some Blazing Starre oder Soft Black Stars.

Erschienen ist The Light Is Leaving Us All zu Beginn der dunklen Jahreszeit, und es gibt weniger stimmungsvollere Platten, um durch Herbst und Winter zu kommen in Erwartung der längeren und helleren Tage. Vorausgesetzt, das Licht verlässt uns nicht vollständig. ( M.Boss)

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