„1961“-ist das neue Studioalbum der Sheffielder Humberstone-Zwillinge von In the Nursery. Die Briten, welche im letzten Jahr ihr 35-jähriges Bestehen feierten, dies u.a. auch auf dem WGT in Leipzig mit 2 denkwürdigen Konzerten auch nachhaltig zelebrierten. Zum einen in der klassischen Band-Formation nebst Vokalistin Dolores und als sehr wertiger Bonus die Aufführung des Soundtracks „the fall of the House of Usher“ im Schauspielhaus, bei dem ich endlich mal das Glück hatte die Band im passenden Ambiente bei einem dieser denkwürdigen Vertonungen alter Stummfilme beizuwohnen. In the Nursery haben in diesen 35 Jahren unzählige Alben veröffentlicht mit vielerlei Auswüchsen ( z.Teil vom experimentellen Frühsound der Band bis zur poppig dancigen trippigen Phase in den 90´s) wobei der Focus in den letzten 15 Jahren schwerpunkttechnisch auf der Arbeit an der Optical Music Series lag, z.B. der Vertonung vorwiegend alter Stummfilme wie“ Das Cabinet des Dr.Caligari“ u.v.m. Die kraftvolle Verschmelzung von Military-Drums, neoklassischen Stilmitteln, Soundtrack-Einflüssen und romantischen Wave brachte den Humberstone Zwillingen früh ein Alleinstellungsmerkmal ein und fand sicherlich nicht nur Hörerschichten im klassischen Szene-Umfeld. Vor allem die kraftvollen Live-Auftritte begeistern nach wie vor, scheinen die beiden Zwillinge wie ein ewiger Jungbrunnen zu sein. Mit dem neuen Werk „1961“ greifen die Briten konzeptionell auf ihr Geburtsjahr zurück und setzen sich exemplarisch in den Songs mit Ereignissen,sei es politisch, wissenschaftlicher oder allgemeingültiger zeitgenössischer Art aus diesem Jahr auseinander. Zugegebenermassen erreichten die letzten klassischen Alben der Sheffielder nicht mehr die Perfektion so mancher Klassiker wie „lésprit“ oder „Sense“. Somit gab es meinerseits keine so große Erwartungshaltung, welche jedoch schnell eines besseren belehrt wurde. ITN begeistern zu allererst auf diesen Album mit einem für ihre Verhältnisse sehr organischen, live-orientierten Sound, der kantige Einflüsse aus PostPunk und sogar klassische Postrock-Strukturen zulässt. Mit Hinzunahme des Up North Session Orchestra schaffen die Briten es, ein Album einzuspielen, welches mit vielerlei Komponenten aufwartet und somit jedem Song ein komplett anderes Gesicht verleiht. Das Album startet mit „until before After“ angenehm verhalten, melancholische männliche Vocals über einem Hauch verwehter Joy Division-lastiger Postpunk-Bassläufe. Dazu gesellen sich recht schnell die typischen ITN-Streicher und das Background-Raunen von Dolores. Sehr schwebend, aber wie oben angesprochen, im Vergleich zur oftmals reinen Elektronik früherer Alben, sehr organisch im Sound, fast wie eine Rockband aufspielend.Im darauffolgenden „Torschlusspanik“, gewidmet mit vielerlei Stimm-Samples dem Aufruhr des Mauerbaus, einnehmende mahnende Kennedy/Chruschtschow Choräle, von sanfter Neoklassik bis Military-Drums unterfütterten Marschrhythmen, kommen alle Trademarks der Band zur Geltung. Hat definitiv viele Referenzen an die eigenen Bandklassiker in den späten 80ern. Sakrale Orgeluntermalte Ambient-Klänge, sehr wehmütige Töne schlägt man im folgenden 6-minütigen „consul“ an, bis wieder diese typischen Military-Drums zum eher verschleppten Rhythmus des Songs eine sehr nächtliche, trippige Atmosphäre beschwören, die im weiteren Verlauf durch schleifende Gitarren erneut PostPunk Einflüsse integriert. „Grand Corridor“ ist dem alten Militär-Krankenhaus gewidmet, in welchem die Zwillinge das Licht der Welt erblickten, was mit seinem langen Korridor als eines der unheimlichsten Hospitale Englands bis zu seiner Schliessung 1985 galt. Ein schwermütiger Song, voller dräuender schleifender Gitarren, verzweifelten Gesang und diesen schwer melancholischen Streichern. Absolutes Highlight ist der Song „retrofire“-gewidmet Yuri Gagarin-erster Mensch im Weltall. Leider mit knapp 4 Minuten viel zu kurz, lebt er von seinen kongenial eingesetzten russischen Sprachsamples-kosmisch psychedelisch mit tollen Orgelklängen und wiedermal sehr organischem Live-orientierten Bassklängen. „Pacify“-entlehnt dem Buchklassiker „catch 22“-ist eine reine Neofolk-Ballade, welche kraftvoll untermalt mit Backing-Vocals von Dolores eine gelungenen Abwechslung darstellt. Erneut ungewohnt psychedelisch spielt man in „solaris“ auf-angelehnt an den philosophischen Film-Klassiker des Polen Stanislav Lem , werden erneut drückende Bassläufe mit stoischem Schlagwerk kombiniert, alles irgendwie ungewohnt lo-fi, was den Engländern aber ein frisches Gesicht verpasst. Das von Dolores intonierte „prisoners of Conscience“ ist eine wunderschöne, zerbrechliche Ballade mit perlenden Gitarrenakkorden und todtraurigen Streichern-mit knapp 3 Minuten leider viel zu kurz. Hier lässt sich auf beachtliche Weise sogar der Einfluß moderner Indie/Alternative-Gitarrenklänge nicht leugnen. Das Abschluss-Stück „the Earth was Blue“ bezieht sich erneut nochmal auf ein grossartiges Jahr der Pioniere des Weltalls Yuri Gagarin und Alan Shepard, ihrer individuellen Perspektive, dem jeweiligen Blick von oben auf die Erde. Dieser kosmische sehr wehmütig, traurige Rausschmeißer bringt dieses Album in seinem Konzept, seiner Thematiken und der damit so oft fehlenden Demut der Menschen auf das grosse Ganze auf den Punkt. Passend zu den gewählten Themen, die den Erfindergeist, die technischen Errungenschaften der Menschheit auf der einen Seite, Konflikte, politisches Versagen mit all seinen Folgeerscheinungen bis heute aufzeigen, finden ITN jederzeit die passenden musikalischen Muster, ob wehmütig traurig, mahnend oder hoffnungslos nostalgisch. Über dem ganzen Album schwebt ein teils rauer, experimenteller, teils typisch melancholischer, aber immer sehr reflektierender Charakter, welcher durch die teilweise minimalen, kantigen, rockigen Elemente und die geliebten typischen orchestralen Elemente in stetiger Balance aufwartet. Sehr kurzweilige 40 Minuten, die ITN von einer sehr live-orientierten Seite zeigen, sie tatsächlich wie eine Rockband mit Soundtrack-Charakter klingen lässt. Man lässt moderne Sounds genauso wie klassische Post-Punk Referenzen einfliessen, welche ein sehr differenziertes Klangbild über Albumlänge erschaffen, in dem man im richtigen Moment den Bombast reduziert, der Musik Luft und Räume zugesteht. Somit sind keine Abnutzungserscheinungen erkennbar – im Gegenteil, die Frischzellenkur ist perfekt gelungen. Auf weitere tolle Alben.
(R.Bärs)
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