„Die Subkultur und ihre Codes waren nie tot!“ – DIE SELEKTION im Interview

Es gibt sie noch. Irgendwo da draußen in den vergessenen Kleinstädten und toten Dörfern schmieden sie ihre sinisteren Pläne – all die blutjungen Newcomer-Bands, die sich auch anno 2017 dem analogen Synth-Pop verschrieben haben und eine tiefe Verbeugung vor den ewigen 80er-Jahren hinlegen. Wer hätte gedacht, dass mit DIE SELEKTION eine der gegenwärtig interessantesten Szene-Bands aus Stuttgart kommt. Bereits ihr Debütalbum aus 2011 lässt frische Energie einer süchtig machenden, ziemlich coolen Band erkennen, die mit Macho-Koketterie spielt und mit Sänger/Tastenbediener Luca Gillian einen charismatischen Frontmann präsentiert, der mit stilsicherer Italo-Attitüde ganz selbstironisch seine Rolle beherrscht. Seit Bandgründung hat das Trio bereits einige ausverkaufte Auftritte in Europa und Russland gespielt und avanciert immer mehr zum heißen Insider-Tipp. Schnelle Beats und unterkühlte Synth-Flächen sind die Basis, doch ihr Markenzeichen ist der Einsatz der Trompete, der die düsterromantische Stimmung mit außerweltlichem Einsatz unterstreicht und eine ganz besondere Atmosphäre kreiert. Und tatsächlich muss man sich die Frage stellen. Warum hat das eigentlich niemand zuvor gemacht?

BLACK wünscht dieser Formation viel Erfolg bei ihrem zweiten Frühling, wenn am 30. Mai das zweite Album mit dem kryptischen Titel „Deine Stimme ist der Ursprung Jeglicher Gewalt“ beim Berliner-Label „Aufnahme + Wiedergabe“ erscheint. Sänger und Texter Luca Gillian hat sich die Zeit genommen um unsere Fragen zu beantworten.

Hallo Luca, schön, dass du Zeit für das Interview gefunden hast. DIE SELEKTION gibt es bereits seit 2010. Kannst du uns erzählen wie ihr zueinander gefunden habt?

Die Selektion war ursprünglich die Fortführung meines damaligen Post Punk&/Experimental Projektes, nur eben in neuer Besetzung. Ziemlich schnell wurde klar, dass es musikalisch in eine andere Richtung driftet. Daher entschlossen wir uns, eine neue Band zu gründen. Der einzige Song, der ins Repertoire mitgenommen wurde, war „St. Leonard“. Als wir angefangen haben, gingen wir alle noch zur Schule und waren um die 17/18. Nach dem ersten Album und mehreren Touren durch Europa, entschied sich Max Rieger (jetzt bei ALL DIESE GEWALT, DIE NERVEN) sich anderen Projekten zu widmen. Nach Max Riegers Weggang wurde uns klar, dass wir zu zweit nicht weitermachen können. Seit Anfang 2013 ist nun Samuel Savenberg dabei. Samuel war davor in unzähligen Hardcore-Punk und Noise-Projekten aktiv. Momentan macht er neben seiner Tätigkeit als „Master Of Electronics“ bei DIE SELEKTION noch das  Elektronik-Projekt S S S S.

Wie ist schließlich die Transformation zum Wave-Pop mit deutlichem Hang zu den 1980ern entstanden. Was fasziniert euch als Jungspunde an dieser Ära?

Wir haben damals nicht wirklich nachgedacht oder als Ziel gesehen Musik zu machen. Die deutlichen Einflüsse aus den 80ern sind ehrlich gesagt einfach so passiert. Natürlich hatten wir zu dem Zeitpunkt der Bandgründung alle viel DAF, Nitzer Ebb, Depeche Mode, Front 242 und Neubauten gehört. Es war aber nie das Ziel so zu klingen bzw. den Sound nachzuahmen. Generell kam ich über die Plattensammlung meiner Eltern erstmal mit Synthpop und New Wave in Berührung.

Euer Markenzeichen ist der zum Teil sehr entrückt gespielte, gar weltverlorene Einsatz der Trompete, was euch aus der Masse ähnlich gearteter Bands herausstechen lässt. Wie geht ihr ans Songwriting heran? Erst die Inspiration, dann die Komposition – oder entsteht alles gemeinschaftlich im Proberaum?

Samuel Savenberg, als auch früher Max Rieger, ist überwiegend für die Produktion der Songs verantwortlich. Hannes und ich tragen mit Trompete, Gesang und zusätzlichen Synthie-Elementen zur Fertigstellung der Songs bei, das grobe Grundkonstrukt wird jedoch von Samuel angefertigt.

Aktuell scheint wieder ein kleiner Hype um das adrette Schwarz zu herrschen. Industrial-Techno ist in hippen Basement-Clubs Sound der Stunde, Synthies sind verstärkt auch in modernen Pop-Produktionen zu hören und generell scheint der 80s-Vibe auch in der Mode wieder Gefallen zu finden. Würdet ihr das bejahen oder eher behaupten, die Subkultur und ihre Codes waren nie tot?

Die Subkultur und ihre Codes waren nie tot!

In Kürze erscheint euer zweites Album. Gibt es hierauf ein Konzept oder Themen, mit denen ihr euch verstärkt auseinandergesetzt habt?

Wir leben seit mehreren Jahren in drei verschiedenen Städten. Durch die geographische Lage wird das Songwriting nicht einfacher gemacht. Zur Entstehung unseres neuen Albums haben wir uns sieben Tage im Komma in Esslingen eingeschlossen, um das Album aufzunehmen, als auch final an den Songs zu arbeiten. Dafür haben wir uns in der Mitte des Konzertsaals eingerichtet und so verkabelt, dass wir ohne großen technischen Aufwand die Songs im „Live-Prozess“ finalisieren/proben konnten und danach direkt an Ort und Stelle aufgenommen, um die Aufnahme direkt im Anschluss wieder über die laute Club-PA hören zu können. Im Vorfeld hat jeder für sich Demos der jeweiligen Parts, Ideen und Ergänzungen erstellt und diese rumgeschickt. In dieser Zeit haben wir täglich 10-15 Stunden am Album gearbeitet, es uns unzählige Male angehört, viel diskutiert und vor allem sehr viel Prosecco und Schaumwein getrunken. Unser Ziel war es ein Album zu kreieren, welches eine deutliche Entwicklung zum Vorgänger erkennbar macht. Beim ersten Album haben wir nicht viel nachgedacht, sondern die Songs meistens im  ‚one-take‘ aufgenommen. Wir wollten, dass das neue Album ‚erwachsener‘ und ‚durchdachter‘ klingt, was uns meiner Meinung nach auch gelungen ist.

Ihr habt bereits um die 100 Shows in 14 Ländern Europas und Russland gespielt – vor allem in Italien und Russland. In eurer Heimatstadt Stuttgart seid ihr nach wie vor ein Geheimtipp. Gibt es im süd- und osteuropäischen Ausland einen anderen Zugang zu „düsterer tanzbarer Musik“?

Wir finden es natürlich schade, dass wir bisher in Deutschland keine wirkliche Aufmerksamkeit bekommen haben, freuen uns aber umso mehr, dass wir trotz der deutschen Texte so viel im Ausland spielen konnten und tolle Erfahrungen sammeln dürften. Wir sind zuversichtlich, dass durch das neue Album auch der ein oder andere neue Hörer in Deutschland auf uns aufmerksam wird. Ich denke einen wirklichen Unterschied im Zugang gibt es nicht, vielleicht wirkt unsere Musik mit den deutschen Texten und der Trompete im Ausland jedoch interessanter da sie fremder scheint.

Musikalisch artverwandt kann man euch sicher gerade mit dem sehr gehypten DRANGSAL gleichsetzen. Ich hörte davon, dass ihr auch eine private Verbindung habt. Begleitet ihr deren musikalischen Werdegang und ist in Deutschland gar ein neodarkes Zeitalter angebrochen, an dem du/ihr euch sicher erfreuen werdet.

 Ich habe Max 2011 kennengelernt und seitdem schicken wir uns gegenseitig Demos unserer Projekte und sehen uns auch relativ oft. Über die Jahre haben wir u. a. bei einem Seitenprojekt von mir die Bühne geteilt. Anfang dieses Jahres waren wir als Vorgruppe in Deutschland bei DRANGSAL dabei. Das war super und wir waren sehr glücklich über das positive Feedback der vollen Drangsal-Shows. Max singt auf unserem neuen Album den Song ‚Der Himmel Explodiert‘ mit mir im Duett, welcher vor ein paar Wochen exklusiv über Noisey veröffentlicht wurde.

Ihr spielt gerade einige ausgewählte Konzerte in deutschen Clubs. Wird es zum Album-Release auch eine größere Tour geben und was kannst du uns einen Ausblick für eure Pläne in 2017 geben?

 Wir werden dieses Jahr auf jeden Fall noch mehrmals auf Tour gehen und auch zum ersten Mal verstärkt in Deutschland auftreten. Die ersten Teile der Tour werden bald über all unsere Kanäle bekanntgegeben. Des Weiteren freuen wir uns jetzt erstmal auf unsere Album-Veröffentlichung und beginnen schon bald darauf, uns Gedanken über die nächste Platte zu machen.

Als letztes noch deine Top 5-Künstler für die Ewigkeit!

Nitzer Ebb, Coil, Einstürzende Neubauten, Depeche Mode, Nick Cave

Vielen Dank für das Interview.

 (D. Charistes)

Mailorder: Going Underground
 

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