Seit 15 Jahren begeistert das WROCLAW INDUSTRIAL FESTIVAL im Südwesten von Polen nahe der deutschen Grenze eine eingefleischte Fanbase mit einem exquisiten Programm quer durch alle Stilrichtungen der internationalen Industrial-Szene. Neben namnhaften Künstlern wie MERZBOW, PRURIENT, SOL INVICTUS, LUSTMORD, TROUM oder ROME, die in der Vergangenheit zu bestaunen waren, sind es vor allem die polnischen Künstler, die gleichermaßen neben den Größen der Szene im Fokus stehen. Neben kontemporärer Kunst und einmaligen Performance-Events ist das mittlerweile viertägige Festival auch daran interessiert, einen Lokalbezug zur Stadt herzustellen und typgerechte Gebäude als Spielorte zu integrieren. Somit ist das WIF als ein familiäres und liebevoll zusammengestelltes Festival zu betrachten, welches wir an dieser Stelle wärmstens empfehlen. Ein Besuch in unserem interessanten Nachbarland lohnt nahezu immer. BLACK hat mit Veranstalter Maciek Frett über das diesjährige 15. Jubiläum gesprochen.
? Im November 2016 jährt sich zum 15. Mal das WROCLAW INDUSTRIAL FESTIVAL. Kannst du für BLACK noch einmal an die Anfänge zurückdenken? Mit welcher Motivation gehst du heute an die Organisation heran?
Meine Veranstalter-Tätigkeit hat 1997 mit meiner Reihe „Youth On The Side Of Machines“ begonnen. Ich lud alle Bands nach Wrocław ein, die gerade auf einer Tour waren, unter anderem NOISES MAKERS FIVE, DEAD VOICES ON AIR, SCHLOSS TEGAL und DEATH SQUAD. 1994 hatte ich im Radiosender Radio-Wrocław meine eigenen Musiksendung unter dem Namen „Industrial Dansce Macabre”. Das alles hat dazu geführt, dass ich 2001, zusammen mit meinem Bandfreund Arek Baginski, der für die JOB KARMA-Filme (= Industrial-Musikprojekt des Veranstalters, Anm. d. Red.) „verantwortlich ist, das erste „Wroclaw Industrial Festival” veranstaltet habe. Das Festival wurde sehr gut aufgenommen, sowohl vom Publikum als auch von der Stadtverwaltung. Heute ist es fest in den Veranstaltungskalender der Stadt Wrocław integriert und findet jedes Jahr im November statt. Dennoch ist das WIF ein kleines Festival mit einer sehr familiären Atmosphäre geblieben. Jedes Jahr kommen ungefähr 500 bis 600 Personen.
? Was kannst du uns über die altertümlichen Locations erzählen, in denen das Festival stattfindet?
Das „Wrocław Industrial Festival” findet hauptsächlich in dem historischen, gotischen Gebäude, das früher als Tempel der Dominikaner diente, statt. In diesem Jahr möchten wir die Leute auch zu der Synagoge „Zum Weißen Storch”, zu dem „Alten Bergwerk” in Wałbrzych und zu weiteren Klubs in der Stadt einladen.
? Besonders ist in diesem Jahr auch ein Ausflug zu einer alten Mine, die eine Show von ASMUS TIETCHENS beinhalten wird. Was erwartet uns hier?
Für das XV. Jubiläum hatten wir etwas ganz besonderes vor. Wir werden die Leute mit den Bussen nach Wałbrzych zum Museum „Das Alte Bergwerk” mitnehmen. Wałbrzych befindet sich knapp eine Stunde von Wrocław entfernt. Auf dem Museumsareal wird es eine Führung geben (in Englisch, Deutsch und Polnisch). Es entsteht für unser Publikum eine einzigartige Möglichkeit, die einzigartige Ausstellung von Bergmaschinen in ihrem Originalzustand zu sehen. Im Anschluss findet dort das Konzert von ASMUS TIETCHENS statt. Nach dem Konzert bringen wir die Leute direkt zum Gotischen Saal nach Wrocław zurück, um den weiteren Musik-Marathon fortzusetzen.
? Welche unvergessenen Momente gab es für dich in der Vergangenheit? Ich bin mir sicher, dass es einige herausragende Performances zu bestaunen gab?
Einige! Da ist wirklich schwer alle aufzuzählen. Für mich am wichtigsten waren die Konzerte von Musik-Legenden, die lange nicht auf der Bühne aufgetreten sind, wie z. B. SIGILLUM S, CLOCK DVA oder TEST DEPT.
? Lass uns über die polnische Industrial bzw. Dark Ambient/Neofolk-Szene sprechen. Welche Künstler kannst du uns hier empfehlen?
Ich mag die polnische Dark Ambient Szene sehr, obwohl ich der Meinung bin, dass dieses Genre im Allgemeinen, so wie eigentlich auch Neofolk, stilistisch ziemlich begrenzt ist und alles bereits gesagt wurde. Ich kann aber folgende polnischen Labels empfehlen: Zoharum, Beast of Pray, Wrotycz, Requiem Rec., die oft alte Aufnahmen von polnischer Experimental-Musik im Programm führen. Mein aktuelles Lieblingsprojekt ist die Band ZA SIÓDMĄ GÓRĄ. Die Musik ist einzigartig, an der Grenze zwischen Psycho-Neofolk und Experimental Music. Auch die reaktivierte Band KSIĘŻYC hat gerade eine sehr gute neue Platte veröffentlicht.
? Wie sieht es mit den Altersstrukturen innerhalb der Szene aus? Mittlerweile ist das Durchschnittsalter ähnlicher europäischer Festivals bei 40+ angekommen. Gibt es ein Nachwuchsproblem?
Ja, da hast du ein Stück weit Recht. Das Publikum in Deutschland ist tatsächlich etwas älter als in Polen. Ich glaube der Grund dafür, ist die Tatsache, dass diese Musik viel später bei uns ankam. Aber es stimmt, man findet kaum Leute 20+. Jede Generation hat ihre eigene Musik. Es bleibt uns daher nichts anderes übrig, als das zu akzeptieren. Ich bin glücklich, dass diese Szene nach all den Jahren immer noch so gut läuft und aktive Strukturen aufweist.
? Das Line-up der 2016er-Edition ist wirklich der Wahnsinn. Was sind deine diesjährigen persönlichen Favoriten?
Vielen Dank, denn das war immer mein Wunsch: Ein Festival, mit einem solchen Programm zu schaffen, dass man nicht auf den anderen Festivals finden kann. Ich versuche jedes Jahr alle Gattungen zu vermischen, von Oldschool-Industrial, Dark Ambient, Noise, Avantgarde, EBM, bis hin zu Neofolk, Cold Wave und Post Punk. Leider bin ich während der vier Festivaltage so beschäftigt, dass ich glücklich bin, wenn es mir gelingt, selbst ein bis zwei Konzerte sehen zu können. Alle Shows sehe ich mir später auf DVD an. Zum Glück habe ich die meisten Bands, die bei uns im November auftreten werden, bereits einmal live gesehen. DAF und PTV sind live immer besonders gut, aber persönlich freue ich mich auf MEIN Konzert in der Synagoge – Robert Hampson – der sich von einem Gitarren-Noise LOOP-Projekt zu einer sehr abstrakten vielschichtigen Elektronik entwickelt hat.
? Reisen wir ein Stück zurück in die Vergangenheit und werden nostalgisch. Erinnerst du dich noch an das Gefühl oder bestimmte Momente, in denen du begonnen hast, diese Art von Musik schätzen zu lernen und in die Industrial-Szene einzutauchen? Welche Faszination ist es, die dich auch heute noch begeistert?
Die ersten Platte hörte ich Ende der 1980er, das waren Bands wie JOY DIVISION, SWANS, TEST DEPT, EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN, SPK, RESIDENTS. Das war die Zeit, als man die Musik nicht im Laden kaufen konnte. Es gab in Polen keine Konzerte und keine Möglichkeit, sich etwas offiziell zu besorgen. Die einzelnen Exemplare wurden mehrmals auf Kassetten kopiert. Erst in den 90er-Jahren hat sich die Situation verbessert. Ich trampte hin und wieder nach Holland und brachte viele neue CDs aus dortigen Second Hand-Shops mit. Ich hatte auch einen Freund in München, der ganz viel Musik aus der Dark Ambient Szene hörte. Stundenlang kopierte ich in dieser Zeit Musik von ihm, die ich später in meinem eigenen Radio-Program „Industrielle Dans Macabre” im öffentlichen Radio in Wroclaw, was heute kaum zu glauben ist, vorspielte. In 1997 habe ich dann selbst mit dem Veranstalten von Konzerten begonnen. Wenig später gründetet ich meine eigene Band. Es war ein intensives Hineinwachsen in die Szene.
? 2013 hatten wir bereits einmal ein Interview mit dir über deine eigenen Projekte JOB KARMA und 7JK geführt? Was ist hier aktueller Stand der Dinge?
Wir haben gerade die Arbeit am neuen 7JK Album beendet. Jetzt spielen wir zu zweit: Matt Howden (vocal und Geige) + ich (Elektronik). Die Veröffentlichung der neusten Platte „Ride the Solar tide” planen wir auf den 03.11.2016. Das neue Material wird erstmals in dem schönen Gebäude der Synagoge „Zum Weißen Storch“ präsentiert.
? Wechseln wir kurz die Szene. Gegenwärtig gibt es einen großen Hype um aktuelle polnische Black Metal-Bands wie MGLA, THAW oder BATUSHKA. Was ist deine Meinung neuen polnischen Welle düsteren Metals – und gab es hier bereits Kollaborationen zwischen einzelnen Künstler, von denen du weißt?
Um ganz ehrlich zu sein, kenne ich mich in dieser Musik nicht so gut aus. Das ist nicht meine Ästhetik und nicht meine Sensibilität. Ich weiß, dass BEHEMOTH lange auf ihre Popularität hingearbeitet haben. Die jungen Bands kenne ich überhaupt nicht. Das ist leider nicht mein Thema.
? Bitte gib uns zum Ende hin, noch einige persönliche Reiseempfehlungen rund um WROCLAW, die wir abseits des Festivals erkunden können?
Man kann in Wroclaw generell sehr viele Post-Industrial-Räumlichkeiten finden, wie z. B. der alte Stadthafen. Ich mag den alten Judenfriedhof sehr. Auch das Museum für Gegenwartskunst, dass sich im Bunker aus der Breslau-Zeit befindet, ist einen Besuch wert. Genießt den wunderschönen Altstadtkern!
? Letzte Frage. Was ist deiner Meinung nach das Unikate, das Besondere am WROCLAW INDUSTRIAL FESTIVAL?
WIF ist nicht nur ein Musik-Festival. Es ist mittlerweile wie ein Familientreffen von Leuten aus der ganzen Welt! Die Künstler haben Spaß zusammen und hängen auch mit dem Publikum ab. Ganz wenige von ihnen bevorzugen es backstage zu bleiben. Ich denke auch, dass die Atmosphäre des nebligen Novembers und alle post-sakralen Gebäuden in denen unser Festival stattfindet, perfekt zu dieser Musik passen und eine ganz besondere Stimmung mit einfließen lassen werden.
Maciek, wir bedanken uns ganz herzlich für das Interview.
(D.Charistes)
XII WROCLAW INDUSTRIAL FESTIVAL 2016 mit SIGILLUM S, PSYCHIC TV, OF THE WAND AND THE MOON,BURIAL HEX, DAF, CUT HANDS, 7JK uva.
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