„Ich denke, man kann „Moloch“ problemlos zur magischen Arbeit, zum Einschlafen oder beim Sex hören.“ – Interview mit VORTEX á Dr. Marcus Stiglegger

Vortex LogoDr. Marcus Stiglegger ist Filmwissenschaftler, Film-Dozent und Publizist. Im alltäglichen Lebensstil ist er seit Jahren aktives Mitglied der Schwarzen Szene. Mit der Studie „Sadiconazista – Faschismus und Sexualität“ gab er seine Promotion. Seine anschließende Habilitation erlangte Stiglegger mit der Arbeit „Ritual und Verführung“, wo er die Seduktionstheorie des Films begründete. Seitdem veröffentlichte der in Mainz lebende Kulturwissenschaftlicher  weitere Bücher zum Genrekino oder fungiert als Herausgeber filmtheoretischer Sachbücher. Außerdem gilt Stiglegger hierzulande als gefragter Experte für das Horror-Genre. Außerdem als kleiner Szenefakt: Der Mittvierziger ist Initiator des unvergessenen Szene-Portals samt Kleinverlag :IKONEN – Magazin für Kunst, Kultur und Lebensart. Die Beschäftigung mit okkulten, schamanistischen oder sexualästhetischen Thematiken prägen seine Persönlichkeit. 2008 gründete er das Dark Ambient-Projekt VORTEX, mit dem er düstere Soundscapes und Filmmusik komponiert und auch Tribal-Einflüsse beinhaltet. Ende Juni erschien mit „Moloch“ das bereits vierte Album. Höchste Zeit für BLACK das Gespräch mit einer, der gegenwärtig interessantesten Persönlichkeiten der deutschen Untergrund-Szene zu suchen.

? Hallo Marcus, schön, dass du Zeit für das Interview gefunden hast. Mit deinem Projekt VORTEX begibst du dich regelmäßig in den Schlund tiefschwarzer Dark Ambient-Gefilde. Dein aktuelles viertes Album „Moloch“ basiert auf einen Besuch und die dazugehörigen Eindrücke der amerikanischen Großstadt New York. War es dein erster Besuch der Stadt – und was hat dich daran so extrem fasziniert bzw. abgeschreckt, dass sich diese Momente tief in dein Unterbewusstsein gegraben haben?
Es war mein zweiter Besuch in New York City, der erste war 1989. Damals dachte ich schon, dass diese Stadt faszinierend filmisch ist. 2013 war ich dann dort, um für ein Forschungsprojekt Filmschauplätze zu fotografieren – quasi zu dokumentieren, wie die Schauplätze von „Taxi Driver“, „Wolfen“, „Die Frau mit der 45er-Magnum“, „Der New York Ripper“, „Die Warriors“, „Manhattan“, „Cruising“, „Brennpunkt Brooklyn“ usw. heute aussehen. Der legendäre Unterground-Journalist Shade Rupe war mein Guide. Auf diese Weise habe ich seltene Ecken von Manhattan, Brooklyn und Coney Island kennengelernt – bei Tag und bei Nacht. Ich fühlte mich wie ein Jäger mit meiner Kamera, immer im Schatten, um großartige Motive zu bekommen. Und ich hatte viel Glück: Einiges davon ist im 32-seitigen Booklet dokumentiert. Das war ein intensive und eindrucksvolle Zeit, als würde man zwei Wochen in einem New-Hollywood-Thriller leben.

? Neben der mythischen Vorlage des Gottes Moloch bezieht sich der Begriff heute auf ein tristes Dasein in einer gesichtslosen oder gar beklemmenden Großstadt. Ist das moderne Leben in einer großen Metropole für dich als Überlebenskampf oder alltägliche Pein zu betrachten? Und kann dieses „Beklemmentheitsgefühl“ auch für eine deutsche Großstadt“ übertragen werden, wenn ja, welche könnte das sein?
„Moloch“ st der zweite Teil einer mythischen Trilogie über den Untergang der westlichen Industriegesellschaft. Insofern ist das zweifellos übertragbar auf andere Situationen, doch New York bietet sich als globale Metropole dafür an. Das Vorgängerwerk „Kali Yuga“ war von meiner Reise nach Kolkata in Indien inspiriert und der dritte Teil trägt meiner Nordlandreise 2013 Rechnung.“

Vortex Presse? VORTEX ist dein viertes Studioalbum. Wie lange hast du insgesamt daran gearbeitet und wie ordnest du das Werk selbst in die bisherige Diskografie ein? Ich persönlich, finde, dass du konzeptioneller und durchdachter gearbeitet hast und bestimmte Passagen nicht dem kompositorischen Zufall überlassen sind, sondern bestimmte Töne ganz explizit für wohliges Schaudern sorgen sollen.

Ich habe an „Moloch“ zwei Jahre gearbeitet. Dafür wurden eigene Field Recordings (aus NYC), sowie Instrumentalpassagen von befreundeten Musikern verwendet, von Oliver (MARS), Patrick Kilian (Dvrtal), Christoph Wirth und Kai und Marcel (The Trail). Die Doom-Gitarren wurden im legendären RAMA-Studio in Mannheim von Christian Bethge (AHAB) aufgenommen. Das machte das Album schon bei der Aufnahme aufwändig und teuer, aber man kann das hören, denke ich. Frederic Arbour hat dann im Mastering noch jede Menge Basstiefe herausgeholt. Wenn man so aufnimmt, ist es wichtig, dass man ein klares Konzept ausarbeitet, sonst fehlt am Ende etwas Wichtiges. Ich habe das behandelt, als würde ich einen Film inszenieren: mit Drehbuch, Sounddesign und Bildkomposition (im Booklet). Bei dem visuellen Aspekt half mir der Designer Danilo Vogt, der auch schon das Mediabook „MARS presents The Trail“ (:Ikonen: media 2015) entworfen hat. Wir sind auf das Ergebnis sehr stolz: „Moloch“ sieht exakt so aus, wie wir es uns erhofft hatten. Und Frederic als Label hat das alles unterstützt.

? Mit dem Bonustrack „Dreams In The Witchhouse“ ist ein sehr atmosphärisches Stück auf dem Album gelandet, welches ursprünglich als Bonusmaterial für die DVD-Neuauswertung des Horrorfilms FROM BEYOND des jungen Labels Wicked Vision gedacht war. Wieso hat es das Stück damals nicht auf die DVD geschafft?

Als ich das Stück komponierte, wusste ich noch nicht, dass dieses Bonusmaterial nur als Onlinebonus geplant war. Ich habe das nicht verstanden, zumal auf einer Bluray locker Platz für eine mp3 sein müsste. Aus diesem Ärger heraus habe ich das Stück als Bonustrack auf das Album genommen. Es entstammt der selben Ära wie „Moloch“, ist aber klassischer. Teile davon wird man übrigens in der Filmmusik von DARK CIRCUS (2017) von Julia Ostertag hören können.

? Du bist im eigentlichen Leben Filmwissenschaftler und Dozent verschiedener Fakultäten. So ordnet man deine Arbeiten beim ersten Hören auch umgehend dem cineastischen Treiben, also einem fiktiven Score zu einem Film, zu. Ist das eine Aufgabe, die dich reizt: Musik für einen Horrorfilm zu komponieren? Und was kannst du uns zu deiner Beteiligung am Soundtrack des Indie-Horrors DARK CIRCUS erzählen?

Ich bin ein großer Fan von Filmmusik, höre gerne Scores und in der Tat war es immer mein Ziel, einen Spielfilmsoundtrack zu komponieren. Nach einigen kleinen Kurzfilmen hat Julia Ostertag meine Musik gehört und mich für den Score angeworben. Von mir stammt die gesamte atmosphärische und rituelle Musik. Vor allem die Tribal-Riten von Louis Fleischhauer wirken großartig dazu. Es ist eher ein erotischer Mysterythriller wie LORDS OF SALEM, weniger Horror. Einige Lieder sind auch dabei, u. a. vom AMEBIX-Sänger. Die End-Credits laufen zu einem Instrumentalstück von meiner Folkband MARS. Ich freue mich extrem über diese sehr symbiotische Zusammenarbeit mit Julia, es wird nicht die letzte gewesen sein. Der Film wird auf Indiefestivals laufen und anschließend auf DVD vermarktet.

? Du bist seit Jahren in der Schwarzen Szene aktiv. Wie beobachtest du die Entwicklung dieser Szene? Sind die Ideale und Einstellungen dieser Subkultur heute noch Anziehungspunkt für junge Menschen, die sich von einer immer oberflächlicheren Gesellschaft abgestoßen fühlen oder glaubst du, dass es eher elitäre Züge annimmt?

Schwer zu sagen. Ich bin Mitte vierzig und gehe selten in Clubs, eher auf Konzerte. Ich beobachte einen Schwund an Nachwuchs. Um wirklich Goth zu sein, muss man vermutlich jenseits der 30 sein. Oder älter. Eine Menge junger Leute, die sich so kleiden, verbinden damit kaum Inhalt und Philosophie. Das interessiert mich nicht. Unser Publikum ist zwischen 30 und 50, wenn ich das richtig sehe, und kommt zudem aus verschiedenen Kontexten: Dark Ambient, Doom Metal, Black Metal und Sludge. Ich sehe da nicht DIE Schwarze Szene. Die Aufsplitterung der Subgenres könnte man sicher als elitär bezeichnen, doch letztlich ist es doch die absolute Marginalisierung dieser Musikkultur. Dark Ambient zum Beispiel spielt sich noch am ehesten global im Internet ab – weltweit gibt es eine Menge Fans, die man äußerlich nie so zuordnen würde.

? Gerne würde ich die Gelegenheit nutzen und dich an dieser Stelle noch nach deinem zweiten Projekt, der Apocalyptic Folk-Band MARS befragen, mit der du ebenfalls filmische Instrumentalmusik komponierst. Dürfen wir hier in naher Zukunft mit einem Nachfolgealbum rechnen?

MARS ist die offizielle Nachfolgeband von :Golgatha: (Cold Meat Industry) und arbeitet vor allem mit Songs. Die Musik ist dabei fast durchweg akustisch aufgenommen: Percussion, Gitarre und Stimme. Inhaltlich geht es um die heidnische Vergangenheit Europas, um schamanische Rituale und die Energie der Natur. In Kooperation mit Gastmusikern haben wir das Ausnahmewerk „MARS presents The Trail“ geschaffen, dass tatsächlich zur Hälfte instrumentale Soundtracks bietet. Mit MARS haben wir gerade die Single „Farewell to the Sun“ (La Esencia) herausgebracht. Nächstes Jahr wird das Album „The Seeker“ folgen, das durchweg Songs zum Thema der spirituellen Queste enthält. Ob wir „The Trail“ fortsetzen, hängt von Kai Naumann ab, der hier einen starken Einfluss hatte. Aber ich denke, möglich ist es. Aber wir haben es nicht eilig und werden unseren Weg unbeirrt in den kommenden Jahren fortsetzen.

? Welche Projekte oder Künstler innerhalb der Industrial/Dark Ambient-Szene faszinieren dich gegenwärtig selbst am meisten?

Ich höre viel Filmmusik und liebe die Soundtracks zu THE VVITCH und MACBETH. Großartig sind Wardruna und ihr Beitrag zur Serie VIKINGS. Auch das letzte Album von Lustmord läuft oft bei mir. Dann gibt es befreundete KünstlerInnen mit einem verwandten Sound zu VORTEX, z.B. LAMIA VOX, auch die neuen IN SLAUGHTER NATIVES und TREHA SEKTORI. Cyclic Law ist da schon mein favorisiertes Label. Industrial höre ich seit Jahren schon nicht mehr. Vermutlich ein Symptom der Altersmilde. Ansonsten mag ich CHELSEA WOLFE, NEUROSIS und SWANS.

? Werden wir VORTEX bald wieder live genießen dürfen? Planst du gar eine Tour?

Wir spielen mit VORTEX wann immer wir eingeladen werden, und bemühen uns stets, ein in sich schlüssiges Ritual zu kreieren. Demnächst werden wir auf dem NCN-Festival in Deutzen bei Leipzig spielen. Da wird nochmal Kali Yuga im Zentrum stehen. Und nächstes Jahr steht ein Festival in Athen im März an. Das beste Konzert bisher hatten wir in Frankfurt vor SIXTH COMM. Da waren der Sound und die Projektion einmalig gut.

? Abschließend noch die Frage, was dein favorisiertes Szenario für einen Trip in die Welt von VORTEX ist. Wie hört man „Moloch“ deiner Meinung nach am intensivsten?

Ich denke, man kann das Album „Moloch“ problemlos zur magischen Arbeit, zum Einschlafen oder beim Sex hören. Das erste Mal sollte man es jedoch mit dem Booklet in der Hand hören und sich auf Bild und Ton gleichermaßen einlassen. Auch beim Lesen ist es inzwischen bewährt, wie man mir erzählt. Das finde ich sehr beruhigend, heißt es doch, dass die Irritationsmomente noch organisch erscheinen und niemals stören… Aber auch live ist eine gute Chance, unseren eher rohen, rituellen Sound zu entdecken. Wir sind keine Laptopband, bei der allenfalls kurz ins Mikro geflüstert oder geraschelt wird. Wir spielen die wesentlichen Sounds live auf der Bühne. Und auch unsere Drones sind meist mit der Stimme erzeugt und nicht vom Keyboard. Das soll das Liveerlebnis durchaus intensiv machen.“

Marcus, ich bedanke mich für das Interview.

Ich habe zu danken!

(D. Charistes)

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