ERNST JÜNGER / ANDRÉ MÜLLER – Gespräche über Schmerz, Tod und Verzweiflung (BUCH)

ernst jünger buchIm Gegensatz zu gewissen Verlautbarungsliteraten hat Ernst Jünger sich nie sonderlich danach gedrängt, Zeitungen oder Fernsehsendern für Interviews zur Verfügung zu stehen. So musste auch der Journalist André Müller Ende der 1980er Jahre erst einiges an Überzeugungsarbeit leisten, bis er Jünger zu einem Interview für die Wochenzeitung DIE ZEIT gewinnen konnte. Die Urfassung dieses Gesprächs fand am 08.11.1989 in Jüngers Heim in Wilflingen stattfand und kann man nun in dem von Christophe Fricker edierten Gesprächsbuch nachgelesen werden. Darüber hinaus beinhaltet der im Böhlau-Verlag erschienene Band zwei Unterhaltungen, die Jünger und Müller 1990 und 1993 jeweils in der Münchener Wohnung von Jüngers Neffen Gert Deventer führten. Ergänzt werden diese um den Briefwechsel zwischen den beiden Gesprächspartnern und den Mitschnitten von Telefonaten.
Da es sich bei den im Buch versammelten Gesprächen um nahezu unbearbeitete Transkriptionen von Tonbandmitschnitten handelt, erhält der Leser die Gelegenheit, Ernst Jünger in ungeahnter Weise nahe zu kommen. Das insbesondere von seinen Verächtern immer wieder gerne kolportierte Bild von Jünger als dem gefühlskalten, ewigen Soldaten löst sich schon nach wenigen Seiten auf. Stattdessen lernt man den Autoren als einen äußert warmherzigen Mann kennen, der immer wieder Kostproben seines jungenhaft-schelmischen Humors liefert. So kommentiert er den Tod seiner Riesenheuschrecke während des ersten Treffens mit den Worten „Ich hoffe, dass dies nicht mit unserer Unterredung zusammenhängt.“ Und als Müller Jüngers Einstellung zur Sexualität thematisieren will, weicht der Gefragte mit der schlagfertigen Bemerkung „Also André Müller, ich glaube, wir treffen uns mal gemütlich“ elegant aus. Überhaupt wird während aller drei Gespräche viel gelacht, wobei Jünger sich besonders hervortut. Aber auch André Müller, dem allgemein der Ruf vorauseilte, ein scharfer und ebenso takt- wie respektloser Frager zu sein, lernt man von einer völlig neuen Seite kennen. Mit fast ehrfürchtiger Zurückhaltung nähert er sich Jünger, den er nicht nur zutiefst bewundert, sondern wie einen Vater liebt, wie er freimütig bekennt. Seinen leiblichen Vater hatte Müller übrigens nie kennengelernt. Während der Begegnungen erweist sich Müller als ein intimer Kenner des Werks seines Gegenübers, was dieser mit einer Mischung aus Erstaunen und Belustigung quittiert. Zudem verteidigt Müller sein Idol öffentlich mehrfach gegen Angriffe, wie sie etwa von Walter Jens, dem damaligen Präsidenten der Akademie der Künste, gefahren wurden. Jünger selbst ignorierte diese Auseinandersetzungen um seine Person mit stoischer Gelassenheit und widmete sich lieber den Dingen, die ihm wichtig waren.
Zugegeben: wer mit dem Denken und Schaffen von Ernst Jünger vertraut ist, gewinnt durch den Gesprächsband kaum neue Erkenntnisse. Was das Buch jedoch so besonders macht ist die Möglichkeit, die Entstehung und Entwicklung einer Freundschaft zwischen zwei wesensmäßig völlig unterschiedlichen Männern nachzuvollziehen: so wird die Lektüre zu einem berührenden Leseerlebnis.

M. Boss

Format: BUCH
Vertrieb: BÖHLAU VERLAG
 

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