„Tilburg verwandelt sich innerhalb einer Woche zum Candy Story, für alle die auf Underground-Musik abfahren.“ Die Avantgarde lebt: Das Incubate Festival in Tilburg: 14.09. – 20.09.2015

15518981606_b7ec92edfe_z2005 noch als ZXZW-Fest gestartet, entwickelte sich das niederländische, von Hardcore & Punk beeinflusste Festivalkonzept zu einem wegweisenden Opinion-Leader der europäischen Gegenwartskunst und gilt längst als Schmelztiegel der Subkulturen. Stilbeschränkungen gibt es ohnehin keine mehr: Underground Electronica, Industrial/EBM, Black Metal und Avantgarde/Noise sind über die Jahre die favorisierten Musikstile der Macher geblieben. Hatten in den vergangenen Jahren bereits illustre Gäste wie Mogwai, Immortal, Fields Of Nephilim, Liturgy, Nadja, Sun Ra Arkestra, Watain, Napalm Death, Krallice oder Hermann Nitsch das Festival bespielt, öffnet sich das Konzept immer mehr in Richtung zeitgenössischer Musik und Avantgarde, gepaart mit Live Poetry, Dance-Performance, Kunstausstellungen oder Film-Screenings. So wird in diesem Jahr unter anderem auch die lang ersehnte Musikdokumentation „Industrial Soundtrack For The Urban Decay“ von Amélie Ravalec und Travis Collins gezeigt. Fakt ist: Man muss sich viel Zeit nehmen, um sich die Rosinen der über 350 teilnehmenden Acts herauszupicken. Für Traditionalisten ist das Incubate aber ohnehin ein alljährlich inspirierender Kultururlaub oder besser gesagt: Ein Nach-Hause-Kommen mit Gleichgesinnten, die mit Musik nicht nur Hintergrundbeschallung, sondern Lebensgefühl, Schmerz, Hoffnung und Ekstase verbinden. Wir haben uns knapp vier Wochen vor Beginn mit Festival-Initiator Vincent Koreman zum status-quo unterhalten.

? Hallo Vincent, was läuft da gerade im Hintergrund, während wir dieses Interview führen?
Gerade läuft TORMENTORS „Anno Domini“ auf Dauerschleife, kraftvoller Black Metal aus den späten 1980er-Jahren. Außerdem beschalle ich unser Büro kontinuierlich mit dem UK-Duo FENDAHL. Meist laufen aber neue Demos von Künstlern, die sich für mein Industrial-Techno-Label „New York Haunted“ bewerben. Es läuft permanent Musik bei mir.

? Mit dem alljährlich in Tilburg stattfindenden Incubate-Festival habt ihr eines der speziellsten Musik- und Kunstfestivals in Zentraleuropa etabliert. Hättest du gedacht, dass das Interesse am Incubate so rasant wachsen würde?
Vielen Dank für die netten Worte. Tatsächlich hätten wir niemals gedacht, dass wir so groß werden und so viele Verrückte aus der ganzen Welt bei uns in Tilburg begrüßen dürfen. Bei der ersten Edition gab es noch 666 zahlende Gäste – das hat sich damals schon als gutes Zeichen herausgestellt. Ich denke, die größte Herausforderung ist es, all die verschiedenen Menschen aus den unterschiedlichsten Subgenres zusammen zu bringen und diesen zu erklären, dass es cool ist, die anfangs fremdelnden Musikstile zusammen zu führen: Noise läuft hier gleichberechtigt neben Black Metal und Punkrock-Bands spielen parallel neben Dark Folk-Künstlern. In der Nacht laden feinste Electronica oder harscher Industrial zum Tanzen ein. Aber hey, es funktioniert! Tilburg verwandelt sich innerhalb einer Woche zum Candy Story, für alle die auf Underground-Musik abfahren.

? Wir leben in gesättigten Zeiten. Wir können Musik über alle denkbaren Medien zu jeder denkbaren Stunde an jeden denkbaren Ort konsumieren – wir werden permanent unterhalten, sind teilweise schon reizüberflutet von all den großartigen Events und Festivals dieser Tage. Was würdest du sagen, ist das ultimative Alleinstellungsmerkmal des Incubate?
Heutzutage kann man die Musikhörer nicht mehr auf einzelne Szenen reduzieren. Ich denke, diese Zeiten sind vorbei. Musikfans hören unterschiedliche Musik, sie möchten zwischen verschiedenen Genres wählen, wenn sie Geld für ein Festival ausgeben. Das ist nur zeitgemäß. Ich persönlich höre derart unterschiedliche Musik, dass sich das eben auch im Line-up wiederspiegelt. Viel wichtiger ist aber, dass wir unseren Gästen ein breites Angebot an neuer, qualitativer Musik anbieten wollen und diese auf Entdeckungsreise schicken. Da draußen gibt es so verdammt viel ungehörte, gute Musik – und die meisten Menschen geraten nie in Berührung damit. Wir versuchen daher Bands und Künstler nach Tilburg zu holen, die noch nicht so populär sind, aber großes Potenzial offenbaren.

15544061652_35de66818e_z? Kannst du uns noch ein wenig mehr über die Hintergründe zum Incubate erzählen und wie die Evolution zu einem der populärsten Undergroundfestivals dieser Tage vonstatten ging?
Unser erklärtes Ziel war es, Menschen und Subkulturen zusammen zu bringen, die alle eines gemeinsam haben: Musik ernsthaft lieben und leben. Wir glauben, dass der Prozess unserer Popularität über die Jahre ganz von sich alleine heraus entstanden ist. Wir wollen Musikinteressierten eine Plattform bieten, über ihren Tellerrand zu schauen. Ursprünglich sind wir als ein Haufen von Typen gestartet, die ihren eigenen kulturellen Kosmos erweitern wollten. Jetzt ist es zu einer Organisation angewachsen, wo dutzende engagierte Frauen und Männer daran mitarbeiten, diesen geschaffenen Raum weiter nach vorne zu bringen. Das sehen wir positiv, denn so erreichen wir noch mehr Menschen, die am Ende des Tages großartige neue Musik mit uns gemeinsam genießen.

? Was ist eigentlich das Besondere an Tilburg, schließlich findet in eurem beschaulichen Städtchen auch das legendäre Roadburn statt.
Wir erhalten tatsächlich sehr viel Unterstützung und Förderung von der Stadt Tilburg. Mittlerweile sind über 500 Freiwillige daran beteiligt, das Incubate zu dem zu machen, was es heute ist. Darauf sind wir sehr stolz. Tilburg bietet für seine Größe weiterhin den Vorteil, dass es enorm viel Fläche und Locations für unser Festivalkonzept hergibt. Und das Beste: Die Fußwege zu den Veranstaltungsorten betragen selten länger als zehn Minuten. Dazu kommt eine pulsierende Musik- und Kunstszene- Das Schöne am Incubate ist ja, dass man sich sein Programm ganz individuell selbst gestalten kann. Die Besucher können parallel zum Festival in den Bars abhängen, Essen gehen, Shoppen, Networken oder Geschäfte besuchen. Tilburg bietet diese tolle „You-can-do-everything“-Attitüde – dafür sind wir sehr dankbar!

? Wie viele Menschen sind eigentlich insgesamt am Incubate beteiligt?
Das kommt darauf an, wie man das zählen möchte. Wir sind ein Organisationsteam, bestehend aus acht Personen, die neben dem Incubate noch andere Veranstaltungen planen. Desto näher es an das Festival geht, desto mehr Freiwillige und Ehrenamtliche werden hinzugezogen. Aktuell, also einen Monat vor Festivalstart haben wir bis zu 30 Helfer allein hier im Büro. Dutzende Volunteers unterstützen uns in der Festivalwoche mit ihrem Einsatz. Wir sind wirklich sehr dankbar, all diese tollen Menschen um uns herum zu haben, die uns bei der Promotion, dem Catering, Künstlerbetreuung, Türkontrollen und dem Festivalempfang helfen.

? Wie würdest du euer Publikum charakterisieren?
Das ist abstrakt zu beschreiben, denn auf Grund der Vielzahl der Stile finden sich alle erdenklichen Arten von Menschen bei uns, was es gleichzeitig spannend und interessant macht. Meiner Meinung nach ist der typische Incubate-Besucher sehr aufgeschlossen, weltoffen, im Herzen junggeblieben, vielseitig kulturell interessiert, bereit, für ein einzigartiges Programm weit zu reisen und stets daran interessiert neue Menschen, Kunst und Musik kennen zu lernen.In der Regel haben wir kein Mainstream-Publikum hier, auch ein Hipster-Vibe ist nicht zu spüren, eher Leute, die ernsthaftes Interesse an Musik mitbringen und es mögen direkt mit den Künstlern zu kommunizieren und ihre Platten, CDs und Merchandising direkt von den Bandmitgliedern bei einem netten Gespräch auf Augenhöhe zu kaufen.

? Und jetzt die Schlüsselfrage: Bei all den unterschiedlichen Spielarten: Wie entscheidet ihr, welche Bands bei euch spielen dürfen?
Selbstverständlich erhalten wir unfassbar viel neue Musik zugeschickt, und ihr könnt uns glauben, wir hören uns das alles auch tatsächlich an. Weiterhin erhalten wir immer brauchbare Tipps von unserer Community. Zuerst entscheiden wir, die Locations nach Genre zu selektieren und ordnen dann diesen den Künstlern zu. Wir versuchen natürlich alles in Balance zu erhalten, so dass es für alle funktioniert und jeder die Chance hat, so viele Acts wie möglich zu sehen – auf dem diesjährigen Incubate sind über 350 Künstler zu entdecken. Wir versuchen außerdem die Bands in den perfekten Kontext zu setzen. Natürlich muss eine Jazz-Band in einem urigen Jazz-Club spielen und Neo-Folk eignet sich am Besten im Wald oder mit Naturbezug. Techno und Industrial gehören in eine alte Fabrikhalle. Durch diese Selektion schaffen wir es, die Kunst auch mit dem Publikum zu verbinden und atmosphärisch darauf einzustellen.

? Euer primäres Ziel ist es die Subkultur zu unterstützen. Wie aktiv schätzt ihr die niederländische Underground-Szene ein? Sind die Niederlande eine starke Underground-Nation?
Definitiv! Hier findest du alles: von Black Metal über Garage Rock zu elektronischer oder experimenteller Musik. Es ist wirklich großartig, ein Teil dieser Kultur zu sein und in das Privileg zu kommen, diese tollen Künstler auf unserem Festival spielen zu sehen. Aber das Beste am hiesigen Untergrund ist die Tatsache, dass er immer international und eher selten lokal orientiert ist. Durch Kollaborationen entsteht ein Dialog und transnationale Grenzen sind schnell überwunden. Die Menschen sind sehr schnell über neue Bands auf dem Laufenden, unterstützen diese. So schaffen sie es relativ schnell im Ausland zu spielen.

? Okay, jetzt wird es knifflig. Bitte nenn uns deine persönlichen fünf Favoriten des diesjährigen Incubate, die du auf gar keinen Fall verpassen willst.

15297892116_8c52496ba8_zHa, ha – das ist unmöglich, allein in diesem Jahr habe ich über 100, die ich unbedingt sehen möchte!

? Gut, ein Kompromiss. Dann bitte ich um deine TOP 5-Highlights der vergangenen Jahre.
NEON JUDGEMENT, unfassbar genialer EBM aus Belgien – seit 20 Jahren eine der besten Bands des Genres. OF THE WAND AND THE MOON haben mich damals mit ihrer intensiven Show regelrecht weggeblasen. Die Band hat vor einigen Jahren in einer Kirche gespielt. In diesem Jahr kommen sie mit EMPYRIUM für eine Special Show in einem extra dafür ausgewählten Natur-Theater zurück und spielen ein exklusives Set im Wald, etwas außerhalb von Tilburg. Das wird sicher super psychedelisch. Großartig, war auch die Performance von PRURIENT – der war so unfassbar laut und intensiv. Ziemlich heftiges Geschrei, es gab sogar einen Moshpit. DER BLUTHARSCH hat 2009 ein wunderbares Konzert gegeben, bevor sie anschließend völlig abgedreht sind. Ein wahnsinnig gutes Live-Set hatten auch CHRIS & COSEY hingelegt. Als Industrial-Pioniere haben sie eine der für mich besten Shows hingelegt. Und da waren natürlich noch CARTER TUTTI VOID mit einer ebenfalls denkwürdigen und legendären Performance.

? Komm schon, jetzt aber die Must Sees für 2015.
Eindeutig CABARET VOLTAIRE – lebende Legenden und wegweisend für die Basis allen dessen, was heute als EBM und Electronic-Music bekannt ist. Wer auf Deep Drones und experimentelle Elektronik steht sollte sich RAPOON anschauen. Ich bin seit 1992 Fan und freue mich sehr auf die Show. Alle Neofolker dürfen sich auf das Konzert von KING DUDE freuen, der in einer Kirche spielen wird. Das sollte für alle interessant werden, die sich für die Church Of Satan interessieren, he, he. Metalfans erhalten mit EMPYRIUM die Gelegenheit sehr atmosphärischen Metal zu genießen. Auch wegen der Location, und weil sie so selten live zu sehen sind. Außerdem kann ich nicht darauf warten ESPLENDOR GEOMETRICO zu sehen. Absoluter Kult – das ist spanischer Industrial mit einem diesjährig sehr eigenen Techno Line-Up. Das wird garantiert sehr laut und unvergesslich für alle Beteiligten. Sicher auch die drei Shows von MERZBOW oder die zwei Shows, die THE MELVINS spielen werden – zusammen mit der sehr, sehr, sehr, sehr speziellen Kollaboration von IDM (Pionier Xasunao Tone zusammen mit Russel Haswell). Viel zu viel guter Stoff ist das – wir sind ja verrückt!

? An dieser Stelle magst du uns vielleicht noch etwas über die große Metal-Events, außerhalb Tilburgs erzählen, welche in den angrenzenden Wäldern stattfinden?

2009 haben wir eine denkwürdige Show von WARDRUNA zu sehen bekommen. Diese fand erstmalig im dafür ausgewählten Naturtheater statt. In diesem Jahr haben wir uns entschlossen, auf Grund der besonderen Atmosphäre, dort gleich drei thematisch aufeinander abgestimmte Metalabende stattfinden zu lassen. Freitags wird es Black Metal mit SECRETS OF THE MOON, BÖLZER, NECROS CHRISTOS und anderen finsteren Gestalten geben. Der Fokus am Samstag liegt auf Stoner- & Psychrock, wenn UFOMAMMUT, VIDUNDER und 11PARANOIAS spielen werden. Am Sonntagabend wird es noch einmal finster, wenn EMPYRIUM, LIFELOVER, OF THE WAND AND THE MOON und DORNENREICH die Bühne betreten. Übrigens: Allein für diese Tage sind Tickets für 25 Euro erhältlich. Wir freuen uns ganz besonders auf diese einzigartigen Konzerte in Verbindung mit der Natur.

15534293872_ace9fb5191_z? Im Rahmenprogramm bietet ihr zusätzlich zu den Konzerten noch Kunstausstellungen, einen Synth-Workshop und ein Craft Beer-Fest an. Und jetzt erklärt uns mal, wie es möglich sein soll, diese tollen Dinge alle zu besuchen?
Wir sind stets im Dialog mit Künstlern, lokalen Entrepreneuren und unbändigen Kreativen. Wenn jemand eine gute Idee hat und bereit ist, diese in Eigenregie auf die Beine zu stellen, sehen wir das als schöne Ergänzung an. Das Craft Beer-Fest ist eine enge Zusammenarbeit mit unseren regionalen Bierspezialisten von T-Drinks. Die D.I.Y.-Synth-Convention ist eine Einladung für alle, die sich für spacige Klänge interessieren und im Club enthusiastischer Synthie-Fans mitdiskutieren möchten. Tatsächlich muss man sehr sorgfältig planen. Dennoch sind die meisten Locations aber in fünf bis fünf bis maximal fünfzehn Minuten zu erreichen, so kann man auch nach der Hälfte eines Sets zum anderen Künstler wechseln.

? Abschließend bitten wir dich um drei Tipps zu Aktivitäten, die man in Tilburg und Umgebung gemacht haben sollte.
Wenn ihr in Tilburg seid müsst ihr euch unbedingt die große Kirche im Zentrum anschauen. An der Pforte findet ihr eine sehr seltsame Jesus-State, tatsächlich ist es aber die blutigste, gorigste Version, die ihr jemals sehen werdet. Dargestellt als Horror-Vision. Unbedingt besuchen solltet ihr auch unsere beiden Plattenläden, die sehr viel Rock/Metal/Indie führen, und eine reichliche Auswahl an Second-Hand-Platten für faire Preise führen. Die größte Auswahl an elektronischer Musik findet ihr bei Antenna. Dort findet ihr die größte Auswahl an Drone, Techno in ganz Holland. Für mich, eine der drei besten Plattenläden überhaupt. Die dritte Sache, die ihr unternehmen müsst: Fahrt in die Wüste! Ja, in die Wüste. Im Norden von Tilburg gibt es einen Ort namens „Loonse and Drunense Duinen“, welche die größte Wüste ist, die es in Holland gibt. Nicht groß genug um sich dort zu verlaufen, aber dennoch äußerst imposant. Sie ist von Bergen eingerahmt und es gibt dort Fressbuden. Also könnt ihr in dieser surrealen Landschaft durchaus auch ein kaltes Bier genießen!“

Vincent, ich bedanke mich für das Gespräch.

(Dimitrios Charistes)

www.incubate.org

Incubate 2015

Cabaret Voltaire – Unknown Mortal Orchestra – Factory Floor – Burial Hex –Mercury Rev + Orchestra – The Melvins – Merzbow – Ufomammut – King Dude- Converge – Veronique Vincent & Asak Maboul – Perc & Truss – Razen – The Soft Moon – Tearist – O/H – Mark Kozelek/ Sun Kil Moon – Secrets Of The Moon – Empyrium – Dornenreich – Alcest – Shining – King Dude – Necros Christos – Bölzer – The Ruins Of Beverast – Lifelover – Grave Pleasures – Ful & The Knife – Primitive Man – King Midas Sound etc.

 

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