CHURCH OF RA-Anhänger wissen, wie selten es um eine der raren Acoustic-Shows von AMENRA bestellt ist, daher wundert es nicht, dass sich der bestuhlte Saal der Brüssel Premium-Live-Club-Adresse „AB“ bereits kurz nach dem Einlass zügig füllt. Man vernimmt Stimmen von internationalem Publikum, Deutsche, scheinbar auch einige Franzosen und viele Niederländer sind gekommen. Ein Großteil der Angereisten scheint dennoch aus dem belgischen Umland und dem heimatlichen Flandern des Kollektivs zu stammen. Wer Hardliner-Fan ist und kommen konnte, der ist heute Abend anwesend. Zu nachhaltig ist die legendäre 2010-Acoustic-Performance des Kollektivs in der Dechenhöhle im Sauerland noch in den Köpfen vieler Fans verankert. Denn eine Acoustic-Show von AMENRA ist ein perfekt einstudiertes und nachhaltig-prägendes Live-Phänomen – ein Reigen gelebter Kunst und Ästhetik im monochromen Schwarz.
Während die Zuschauer vor dem Support-Act mit bedächtigen EARTH-Klängen eingestimmt werden, fachsimpeln erste Fans bereits, wie die Band ihre Show wohl aufziehen wird. Schließlich beinhaltet die 2010 erschienene „Afterlife-EP nur drei „offizielle“ Akustik-Songs. Doch AMENRA wären nicht die gottesgleichverehrte Band, hätten sie für den heutigen Abend nicht einige Überraschungen parat.
Zunächst gibt es einen etwas unharmonischen Einstieg des relativ spät bekanntgegebenen Support-Acts. Dunkle Hauptbühne. Zwei Lichtkegel beleuchten dezent die Schemen zweier Gestalten, die sich wortlos auf ihre Plätze begeben. Die beiden belgischen Experimentalmusiker JONAS VAN DEN BOSSCHEE und BENNE DOUSSELAERE wirken mit ihrer experimentiellen Avantgarde-Improvisation etwas deplatziert. Harscher Analog-Noise bestehend aus extrem verzerrter E-Gitarre und einem sehr raren Synthesizer-Typus als Vintage Wood-Apparat mit zahlreichen Drähten und Verkabelungen, der das Publikum aber eher langweilt als beeindruckt zurücklässt. Van Den Boschee und Dousselaere schaffen es während ihrer knapp 30-minütigen Performance nicht, eine Chemie zueinander herzustellen oder mit ihrem eklektischen Sound-Terror-Akt ernsthaft mitzureißen. Höflicher Szeneapplaus und erleichterte Blicke der Besucher verabschieden das missglückte Sound-Experiment. Auf dem in Brüssel parallel stattfindenden „Bozar Electronic Arts“-Festival wären die beiden Musiker an diesem Abend sicher besser aufgehoben gewesen.
Dreißig weitere Minuten harrt man anschließend aus: deutliche Anspannung ist zu spüren, dazu Neugier und ehrliches Interesse an einer der definitiv besten Live-Bands der Gegenwart. Die monolithischen Live-Eskapaden von AMENRA sind mittlerweile nicht nur in Szenekreisen bekannt. Mitgerissen, erschlagen und bewegt sind die Meisten, die diese kompromisslose Post-Metal-Maschine bisher einmal zu Gesicht bekommen haben. Und auch am heutigen Abend machen AMENRA alles richtig. Perfektionismus wird großgeschrieben, nichts wird dem Zufall überlassen. Kritische Stimmen dürfen behaupten, die Sludger aus Kortrijk/Ghent sind fast schon zu einem Franchise-Produkt verkommen: Man weiß eben, was man bekommt.
Punkt 21.00 Uhr betreten die fünf Musiker wortlos die minimalistische Bühne und sitzen im Stuhlkreis zueinander zugewandt. Fünf weiße Lichtkegel sind auf die Protagonisten gerichtet. Kein Bühnenbild. Bedingungslose Finsternis. Großmeister Colin van Eeckhout sitzt wie erwartet mit dem Rücken zum Publikum. Dann erklingt mit cleanen Gitarren „Aorte. Nous Sommes Du Même Sang“, welches umgehend die hohe Qualität einer AMENRA-Show bekräftigt. Jeder Ton sitzt, jede Note ist dramaturgisch aufeinander abgestimmt. Es braucht keine großen Gesten, um Gänsehaut zu erzeugen. Van Eeckhout ist in Höchstform. Mit geschlossenen Augen gibt er sich voll und ganz „dem Großen Ganzen hin“. Viel öfter sollte dieser seine sakrale Gesangsstimme in künftige AMENRA-Songs einsetzen.
„Razoreater“ gibt es in einer großartigen Unplugged-Version mit gesungenen Vokals, die trotz der nackten Skelett-Version die urgewaltige Macht der Band spürbar macht. Hier zeigt sich auch die Beschäftigung von van Eeckhout mit Kirchen- und Mönchsgesängen, aus denen er nachhaltigen Ausdruck in seine Stimme legt. Nach dem gesungenen „Nowena/9.10.-Intro“ (nur auf der Vinyl-Version von MASS V zu finden) wird das einzige Mal mit „Bedankt“ das Wort an das Publikum gerichtet. Für AMENRA-Verhältnisse ist das bereits großzügige Kommunikation. Es folgt die akustische Darbietung von „Am Kreuz“. Nach dem ersten Drittel des Konzerts betritt eine Violinistin die Bühne, die die anschließenden „Afterlife“-Songs atmosphärisch und dramaturgisch begleiten wird. Die Band ist gedankenversunken, wirkt vollkommen eingespielt und als geschlossene Einheit. Zu perfekt möchte man meinen, denn ein Unterschied zu den Studio-Versionen von „The Dying of Light“ und „To Go On. And Live With. Out“ ist kaum auszumachen. Das melodische Cellospiel sorgt dafür für zusätzliche Gänsehaut und einen wohligen Schauer. Im Hintergrund öffnet sich während des Stückes die Leinwand für nächtliche Waldaufnahmen, ein mysteriöses Kreuz steht im Vordergrund und wird aus verschiedenen Blickwinkeln präsentiert. Plötzlich beginnt ein sechster Lichtkegel einen weiter entfernt gelegenen Stuhl zu beleuchten. Es ist der Aufritt von Sofie Verdoodt, eine freischaffende belgische Künstlerin, die aus ihrem Gedichtband „Doodwater“ (deutsch: Todeswasser) vorliest. Leider bleiben die dargebotenen Worte für Nicht-Flämisch sprechende heute im Dunkeln – in der am Merch-Stand erhältlichen Buchausgabe ist aber eine englische Übersetzung zu finden.
Hier zeigt sich das Gesamtkunstwerk „Church Of Ra“ in seiner absoluten Vollkommenheit, das neben dutzender Nebenprojekte, einer ästethischen Gesamtkomponente und dem „Corporate Identity“-Image neben Büchern und „Visual-Arts“ nun auch auf düstere Poesie-Bände setzt. Weiteres Highlight ist sicher auch das Tool-Cover „Parabola“, welches für die größte Überraschung des Abends sorgt. Das anschließende letzte Stück „Wear My Crown“ mit weiblichem Zusatzgesang sorgt dann für die großen Emotionen. AMENRA beweisen, wie sie es auch ohne aufgedrehte Regler schaffen, Intensität und bedingungslose Hingabe in ihrer Kunst zu performen. Das Ritual ist am Höhepunkt angekommen. Obskure Filmaufnahmen im Hintergrund lassen die nächtliche Szenerie zu einem erwachsenen Schattenmärchen verkommen. Man vergisst schon fast, dass man sich in einem geschlossenen Saal befindet – die ganze Performance könnte auch unter freiem Himmel stattfinden. Wer sich voll und ganz dem Erlebnis hingibt, der vergisst alles um sich herum, schließt die Augen und ist dort, wo ihn AMENRA haben wollen: in ihrem ganz eigenen Utopia, im „Amicitia Fortior“, dem „Club der Mutigen“.
Am Ende leitet ein Gitarren-Instrumental von Mathieu Vandekerckhove in einen letzten Poem von Sofie Verdoodt ein, welches sich anschließend zu einem atmosphärischem Ambient-Track im Stile von ULVER´s „Shadows Of The Sun“-Album verwandelt. Vandekerckhove hat sein Spiel in sein Nebenprojekt SYNDROME transformiert, experimentiert mit Loops, leitet drei rhythmische Gitarrenspuren ein, bis er mit seinem abschließenden Bottle-Neck Spiel und den dargebotenen Soundscapes für das ganz große Finale sorgt. Nach 45 Minuten verlassen AMENRA wortlos die Bühne. Alles ist gesagt. Tosender Applaus. Befriedigung. Einige Minuten vergehen. Eine Zugabe? Undenkbar.
Die Lichter gehen an und die Besucher treten den Nachhauseweg in die reale Welt an. Dabei hatte man sich gerade so schön in diese sakrale Finsternis eingekuschelt. AMENRA überzeugen wie immer mit ihrer definitiven Kompromisslosigkeit ihres konzeptionellen Rituals. Eine Band, die längst in ihrer ganz eigenen Liga, nein, in ihrem eigenen Universum spielt. Es ist wie immer, „dargebotener Perfektionismus“.
(Dimitrios Charistes)
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