Erschienen die drei letzten regulären Alben von CURRENT 93 rasch hintereinander binnen 1 ½ Jahren, hat David Tibet sich für sein neuestes Werk wieder etwas mehr Zeit gelassen. Allerdings widmete er sich während der vergangenen drei Jahre auch seinem Nebenprojekt MYRNINEREST, dessen Debütalbum “Jhonn Uttered Babylon“ als ein Requiem für den 2004 verstorbenen Jhonn Balance konzipiert war. “I Am The Last Of All The Field That Fell“ knüpft nahezu nahtlos an seine Vorgänger an, und wie schon so häufig in seiner künstlerischen Laufbahn konnte Tibet einige namhafte Mitstreiter gewinnen, darunter den Saxophonisten und Komponisten John Zorn, Tony McPhee, den Gitarristen der legendären Blues-Rock-Formation THE GROUNDHOGS sowie COMUS-Sängerin Bobbie Watson, die einige Backing Vocals beisteuert. Ferner verleiht Antony Hegarty mit seiner einzig-eigenartigen Stimme dem Titel “Mourned Winter Then“ eine melancholische Stimmung, während Underground-Ikone Nick Cave nach “All The Pretty Little Horses“ aus dem Jahr 1996 zum zweiten Mal an einem CURRENT-Album mitwirkt. Darüber hinaus hat Norbert Kox, ein amerikanischer Dichter und visionärer Maler aus dem Umfeld der Outsider Art als ein Verwandter David Tibets im apokalyptischen Geiste exklusiv sein Gedicht “Truth Is One“ eingelesen.
Musikalisches Rückgrat der gesamten Produktion aber ist das Piano von Reinier van Houdt, das vor allem dem Eingangstitel “The Invisible Church“ fast schon Kunstliedcharakter verleiht. Der Einsatz des Saxophons von John Zorn eröffnet eine klangliche Dimension, die man von CURRENT 93 bisher nicht gewohnt war: nachdem die Band den Apocalyptic Folk schon lange hinter sich gelassen hat, scheint sie nun beim Apocalyptic Jazz angekommen zu sein. An die postindustriell-noisigen Anfangstage von CURRENT 93 erinnert der Track “And Onto PickNickMagick“: Tony McPhee erzeugt hier einen stampfenden, düster-bedrohlichen Klangteppich, die ideale Hintergrundmusik für den Weltuntergang und das Jüngste Gericht. Im Gegensatz hierzu kommt “I Remember The Berlin Boys“ geradezu heiter-verspielt daher und unterstreicht, dass im Gesamtwerk von CURRENT 93 immer auch Platz war für einen feinsinnigen Humor.
In seinen mit gewohnter emotionaler Inbrunst vorgetragenen Texten liefert David Tibet die für ihn charakteristische Mischung aus autobiographischen Momentaufnahmen, persönlichen Obsessionen, Reflexionen zu biblisch-apokalyptischen Motiven und einer aus unterschiedlichsten Quellen gespeisten Privatmythologie. Neben der Erforschung des Koptischen hat Tibet in der letzten Zeit auch damit begonnen, Sumerisch und Akkadisch zu lernen, und es verwundert kaum, dass sich nun auch diese antiken Sprachen in den Lyrics niederschlagen. “I Am The Last Of All The Field That Fell“ trägt den Untertitel “A Channel“, die Texte scheinen ihrem Verfasser demnach von wie auch immer gearteten überirdischen Wesen eingegeben und vom Empfänger in einem Akt automatischen Schreibens festgehalten worden zu sein. Übrigens behauptete auch Aleister Crowley, der seine letzten Lebensjahre in Hastings, Tibets momentanen Wohnort, verbracht hat, insbesondere seine Gedichte auf einem ähnlichen Weg empfangen zu haben. Ganz gleich, welchen Inspirationen die Texte letztlich entstammen: Tibets lyrische Visionen haben mittlerweile eine derartige poetisch-hermetische Verdichtung erreicht, dass sie sich zunehmend einer rein rationalem Deutung entziehen. Virtuos verbindet der Mystiker aus Hastings seine persönlichen Leiden mit den Leiden der Schöpfung und lässt als Schmerzensmann seine Zuhörer einmal mehr teilhaben an seiner Suche nach Erlösung. Inwieweit man die Texte nun als besondere Form einer religiösen Offenbarung oder als reine Poesie auf hohem dichterischem Niveau wahrnimmt, bleibt letzten Endes dem Empfinden eines jeden Zuhörers überlassen.
Zugegeben, mit “I Am The Last Of All The Field That Fell” betreten CURRENT 93 kein vollkommenes Neuland. Aber auch wenn die besonderen Überraschungsmomente fehlen, ist es ein äußerst kraftvolles und hörenswertes Album geworden, und vor allem Tibets neue Mitstreiter Tony McPhee und Reinier van Houdt verstehen es blendend, dem Klangbild der Band neue Farben hinzuzufügen. Man darf gespannt darauf sein, welche Facetten CURRENT 93 dem neuen Material bei ihren bevorstehenden Konzerten in Deutschland abgewinnen werden.
M. Boss
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