NINE INCH NAILS – Hesitation Marks (CD)

Trent Reznor entspannt sich und erfindet auf diesem Weg die Musik der NINE INCH NAILS neu – wer hätte daran noch geglaubt? In den vergangenen Jahren konnte ich mit NINs Output – von „With Teeth“ über „Year Zero“ bis zu „Ghosts“ – kaum noch etwas anfangen, denn Reznors Musik schien nurmehr aus der Variation dessen zu bestehen, was er mit so bahnbrechenden Werken wie „Pretty Hate Machine“ und „The Downward Spiral“ eigenhändig erfunden hatte. Danach kam mit „The Broken“ ein etwas unentschieden ausufernder wie halbherziger Versuch der Innovation, bevor NINE INCH NAILS zu ihren eigenen Nachlassverwaltern mutierten und dieselbe Platte immer wieder aufnahmen. Das betraf sowohl die Sounds (gesampelte Gitarren, harte Beats) als auch Stimme (brüll, keif) und Stimmung (alles auf der düsteren Skala zwischen aggressiv bis depressiv). Die Filmsoundtracks der NIN-Mitglieder klangen anders, doch die Musik zu „The Social Network“ beispielsweise geriet fast noch langweiliger als der Film selbst. Schon schien keine Aussicht mehr zu bestehen auf Inventur in Trent Reznors Industrial-Schrottplatz – da veröffentlichen NIN „Hesitation Marks“.

Ja, „Hesitation Marks“ ist anders, und ja, das Album ist auf interessante Art anders. Der Bandleader, glaubt man dem Text des ersten Stücks, ist endlich aufgewacht und hat Notiz genommen vom Übel, das die Gruppe befallen hatte: „I´m just a copy of a copy of a copy…“, singt Reznor, nur um in der Folge – Problem erkannt, Problem gebannt – dann doch nochmal was anderes zu machen, als sich selbst zu kopieren. Zuerst fällt der Stimmungswechsel auf: Die etwas penetrante, quengelige Wut und die exhibitionistisch zur Schau gestellte Depression der Vorgängerplatten, die jeden über dreißigjährigen, nicht heroinabhängigen Hörer nerven mussten, sind einer ausgeglichenen, fast erwachsenen Stimmung gewichen. Das heißt nicht, dass NIN jetzt permanent gute Laune und ausgelassene Heiterkeit propagieren, doch Trents Vocal-Performance und die Lyrics sprechen 2013 eine vernunftbereite, fast altersweise Sprache, die man dem Heißsporn nach so vielen wutentbrannten Jahren gar nicht mehr zugetraut hätte. Zweitens verzichtet er fast völlig auf die obligatorische gesampelte E-Gitarre a la MINISTRY, was ebenfalls das Aggressionslevel zurückschraubt. Die Beats dagegen sind noch verspielter als man es selbst von den NINE INCH NAILS gewohnt ist – am besten ist die Musik zu vergleichen mit einer weniger an strengen Songstrukturen orientierten, psychedelischen Version von „Pretty Hate Machine“; weniger Pop als der Erstling, weniger Schlag ins Gesicht als „The Downward Spiral“ und weniger manisch-depressive Langeweile als „The Broken“. Reznor konzentriert sich darauf, die Lücken zwischen den Drumpatterns mit aufregenden Industrial-Sounds zu füllen, die seinerzeit auch THROBBING GRISTLE zur Ehre gereicht hätten. Kurz: der perfekte Mix des Besten, unter Abkopplung des weniger Gelungenen, plus ein gesunder Schuss Innovation.

Mit „Hesitation Marks“ präsentieren NINE INCH NAILS endlich eine Platte, die nicht der Erwartungshaltung entspricht. Die neue Gelassenheit steht Trent Reznor gut, und somit gewinnt er wenigstens in mir einen alten Fan zurück, der NINs Industrial-Pop schon zum alten Eisen gelegt hatte.

(M.Reitzenstein)

Format: CD
Vertrieb: Null Corporation/Polydor/Universal
 

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