Auf dieser voll ausgelasteten CD im dreifach goldgeprägten Digipak (bei Hagshadow zum anständigen Preis im Exklusivvertrieb) befinden sich als “Retrospective 1984-1990” untertitelt nicht nur die bekannten Klassiker aus alten DEATH IN JUNE-Zeiten, sondern ab der Hälfte auch unbekanntere Stücke, wie alternative Versionen von Werken auf der Doppel-CD von 2006 “Headless/Let The Moon Speak”.
Nun ist das mit Neuaufnahmen von 6COMM seit jeher so eine Sache gewesen, denn in den 80er und frühen 90er Jahren, bevor Remixe salonfähig geworden waren, dürfte sich kaum ein Künstler so ausgiebig remixt haben wie Patrick Leagas alias O’Kill alias 6COMM – wofür er von vielen Fans Häme erntete, die ihm mangelnde Kreativität unterstellten. Nun also noch eine weitere “Best Of” mit den obligatorischen Stücken aus der prä-MOTHER DESTRUCTION-Ära? Ja, und doch wesentlich mehr als das, denn der Meister hat die Stücke nicht einfach remixt, sondern sie in der Tat neu aufgenommen, und dabei mal mehr mal weniger originalgetreu instrumentiert. Der Hermeneutik entsprechend überrascht es nicht, dass dabei in vielen Fällen substanziell andere Stücke herausgekommen sind, hervorgegangen zwar aus den Originalen, mit diesen verwandt, aber nicht ganz identisch. Dem wird auch mit geänderten Titeln Achtung gezollt, in denen die Titel der Vorlagen als Zitate anklingen. “Kirato e Sonfelte”, das mir früher mit seinen allzu hektischen Beats nie richtig gelungen erschien, eröffnet als schwebendes, von warmen Synthi-Teppichen getragenes Intro den Reigen: dasselbe Stück, nur völlig anders. Wer aber nun glaubt, Patrick habe sich radikal dekonstruiert, liegt auch daneben: “The Calling” etwa, noch immer ein Tanzflächenfüller in vielen Düster-Clubs, heißt jetzt “Pipes Of Gold” – und ist als dunkler Wiedergänger seinem Zwilling von 1984 noch am ähnlichsten. “The Torture Garden”, jetzt “Will To War”, ist mit sechs-ein-viertel Minuten und einer fast optimistischen zusätzlichen Strophe das strukturell am stärksten veränderte Stück, und dürfte DIJ-Fans genauso beglücken wie alte und neue Freunde von 6COMM. “Salerno Carousel” wurde ebenfalls um zwei Strophen erweitert und ist auf der 6COMM-myspace-Seite anhörbar. Zeitlosen Klassikern wie “Winter Sadness” oder “A Nothing Life” wird ein zeitgemäßes Klanggewand verpasst, das die Stücke frisch und aktuell klingen lässt: Das hymnische “A Nothing Life” erstrahlt in satt abgemischter melancholischer Pracht, begleitet von Gitarre und entrückten Synthi-Flächen; im Schlussteil übernimmt ein Mellotron das Leitmotiv statt des Klaviergeklimpers im Original. “Neiflheim”, der große Hit anno dazumal, präsentiert sich als minimalistische, treibende Techno-Maschine – und war mit seinem monotonen Beat 1986 seiner Zeit ja auch um Jahre voraus. Überhaupt zeigt sich an der Bandbreite der vertretenen Stücke, wie innovativ DEATH IN JUNE bzw. 6COMM tatsächlich waren: “Foretell The Blood Flows” lässt mit seinem Einsatz von Drummachines und echten Trommeln bereits den heute ubiquitären, Snare-lastigen martial Industrial erahnen, und dank fortgeschrittener Aufnahmetechnik klingt das jetzt auch so, wie man sich’s damals nur wünschen konnte. Richtig interessant wird dann die zweite Hälfte des Albums: Hier wechseln sich intensive, hypnotische Ambient-Tracks mit nachdenklich-experimentellen Soundcollagen ab, zu denen Patrick mit seiner eindringlichen Stimme von Trance-, Traum- und traumatischen Erlebnissen erzählt bzw. singt, was stellenweise einen manisch-magnetischen Sog entwickelt (“Shake The Fear”), in majestätisch filmmusikhafte Gefilde mäandert (“Sow The Wind”) oder die Form magischer Miniaturen annimmt, wie die epische Ballade “Wake Up The World”, oder die Bearbeitung des Titelstücks von “Let The Moon Speak”, bzw. “Like A Death In June”, das jetzt “Death Illusion” heißt. Das Stück mit dem bizarren Namen “Tentoflimblessmothers” könnte ebensogut von einer afghanischen Neofolk-Band stammen, inklusive tribal Percussion und ethnische Instrumente. Durch die Stücke zieht sich ein zarter thematischer Faden, der von Scham und Verführung, Schuld und Sühne, Vergebung und Vergeltung handelt (“Shame On You”), und wie man sich dieser karmischen Verantwortung am Besten stellen kann: “Body and soul depend on one another. Become yourself, then God and the Devil don’t matter”, wie es in dem Sample gegen Ende heißt. Wie der Name des Albums demonstriert (und Patrick’s Schützengraben-Kostüm bei den Konzerten in der ersten Jahreshälfte 2009), ist die primäre psychohygienische Funktion von 6COMM noch immer die Auseinandersetzung mit den Gegensätzlichkeiten menschlicher Extreme, ihrer Kongruenz und Konkurrenz – wie den Komplementärkontrasten zwischen Liebe und Krieg, Vergebung und Rache, Erleuchtung und ideologischer Verblendung. Das Abschluss- und Titelstück zitiert gar Goebbels’ Propagandaphrase im Bombenkrieg, die Gegner könnten zwar die Wände brechen, aber nicht die Herzen der Menschen, dreht sie herum und macht sie zu einem ergreifenden Plädoyer gegen Krieg und Grausamkeit, indem sie mit kraftvollen Bildern von den “crooked wings of cruelty”, die wie (gefallene?) Engel heulend vom Himmel stürzen, die Ungewissheit und Todesangst beschwören, die während der Verdunkelungen die Menschen am Boden bewegt haben müssen, während über ihnen die “trumpets of Jericho” ertönten. Patrick Leagas ist noch immer besessen von den Gewaltexzessen des 2. Weltkriegs, und zutiefst verängstigt von dem allzu menschlichen Potenzial zu Krieg und Grausamkeit, der Verführbarkeit durch Macht – “Waste, corruption and toil”. In seinem Versuch, zu verstehen und zu überwinden, schlüpft er, Schamane der er ist, in die verschiedensten (musikalischen) Rollen und rekapituliert seine Traumata, die zugleich die von uns allen sind. Seinen höchst intensiven, andauernden Exorzismus dieser Themen praktiziert er mit ehrlicher Tiefe und großem Gespür für die Tiefe ästhetischer Schlichtheit. Diese zarte, fast verletzliche Sensibilität zeichnet 6COMM aus, nebst dem meisterhaften Gespür für Stimmungen und Effekt. Hier kommt zu voller Blüte, was bei so vielen in einfältigem Gepose und hohlem Pathos erstarrt. Das Schöne ist, dass trotz des Charakters als Zusammenstellung ein geschlossener Gesamteindruck entsteht, sodass die CD wirklich als Album hörbar ist – und von den fürwahr traumhaften Melodien bekommt man nicht so schnell genug. Für alte Fans eine Beglückung der ganz besonderen Art, und für alle, die 6COMM bislang nicht oder nur von “Headless” kannten, liegt hier eine CD vor, die kaum besser zum Kennenlernen geeignet sein könnte, da sie alle frühen Höhepunkte (bis auf “Taste for Flesh”) in gelungener Form wieder verfügbar macht und darüber hinaus mit einer Palette wunderschöner “neuer” alter Stücke kombiniert. Diesem Album soll noch ein weiteres mit Neuaufnahmen früher DIJ- und 6<-Stücke folgen – man darf gespannt sein, welche Facetten Patrick L. Hymnen wie “State Laughter” oder gar “Doubt To Nothing” noch entlocken wird…. (AN)
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