2013 führten diverse Verstrickungen dazu, dass ich mich am frühen Nachmittag des Freitags vor Pfingsten auf dem Beifahrersitz einer Bekannten wiederfand. In meiner Brusttasche: Ein – pun intended – schwarzes Loch. Wo sonst das Ticket für das WAVE-GOTIK-TREFFEN jedes Jahr aufs Neue beim Verlassen des Hauses eilig hineingestopft worden war, steckte nun ein einsamer Zettel mit der Adresse meines Auffanglagers. Ich versuchte mir einzureden, dass dieser Umstand ob des hässlichen Wagner-Konterfeis auf dem Ticket keinen Verlust darstellte. Erfolgreich war ich dabei nicht. „Für zwei angebrochene Tage hätte sich die Anschaffung eines Tickets tatsächlich nicht gelohnt“, redete ich mir ein. Drei Stunden später erreichten wir meine Bleibe. Da stand ich nun, umspült von Grufties.
Zwiebeln schälen
Glücklicherweise ist Leipzig zu Pfingsten wie eine schwarze Zwiebel. Beinhalten die äußersten Schichten die dynamischen Erfahrungsräume des eigentlichen Treffens zwischen dem Sich-Zur-Schaustellen für sexuell überkompensierende Fotografen vor und auf dem agra-Gelände, die reichhaltige Konzertlandschaft oder die vielen großen (und kleinen) Momente des Wiedersehens und Anstoßens im Rahmen des beständigen schwarzen Stroms durch die Verkehrsadern der Stadt, so existieren viele andere Schichten von Parallelräumen subkultureller Zusammenkunft. Ausgangs- und Bezugspunkt bildet dabei immer wieder das WGT, das Rahmen und Anlass für das immer reichhaltigere Gegen- und Zusatzprogramm bietet.
Treffen neben dem Treffen
Zu nennen wäre z.B. das mittlerweile zur Institution gewordene GOTHIC POGO FESTIVAL mit einem in aller Regel beeindruckenden Konzert- und DJ-Programm aus dem Synthwave-, Postpunk- und DeathRock-Bereich. Hingeschafft habe ich es auch 2013 leider nicht. Hinzu kommen diverse Hinterhof-Konzerte, die Errichtung temporärer autonomer Zonen durch Noise-Künstler in alten Fabriken (erlebt Anno 2011) oder kleine gemütliche Partys wie die BLAUE STUNDE. Immer mehr findige Pubs bieten Nebenprogramme und „schwarze Abende“ an, um Profit aus den ausgabefreudigen Schwarzkitteln zu schlagen.
Hände reiben
Weniger auf den schnellen Euro aus war die gemütliche Metalkneipe HELHEIM, in dem meine Freundin und ich am Pfingstsonntag den bezaubernden wie hinreißenden Lyrik-Vertonungen von QUELLENTHAL und NEBELUNG in intimer Atmosphäre folgen durften. Live sind beide Projekte nur zu empfehlen: sympathisch, offen und meilenweit entfernt vom tarnbefleckten Neofolk-Biedermeier. Unvergesslich wird mir wohl bleiben, wie NEBELUNG-Sänger Stefan Otto am Anfang des Konzertes mit Blick auf die Atmosphäre darum bat, anstatt zu Klatschen die Hände zu reiben. Mit ein paar Startschwierigkeiten folgte das Publikum, was eine gänzlich ungewohnte wie unvergessliche Konzerterfahrung bescherte.
We´re living in the Twilight Zone
Zwischen den Polen „offizielle Veranstaltung“ und „Gegenveranstaltung“ steckt so etwas wie die Twilight Zone, in der Besucher mit und ohne Bändchen zugleich anzutreffen sind. Letzteren wird der Zutritt für ein Entgelt von schwankender Höhe gewährt. Dies trifft vor allem auf verschiedene Diskotheken (z.B. VILLA, BEYERHAUS KELLER, STÄDTISCHES KAUFHAUS), Bars (z.B. SIXTINA I&II, LA PETITE ABSINTHERIE), Ausstellungen (z.B. KULTURNY DOM 31, STASI-MUSEUM) und die beiden großen Mittelaltermärkte zum WGT zu.
Kontaktzone Heidnisches Dorf
Gerade das Heidnische Dorf neben dem agra-Gelände ist ein beliebter Treffpunkt zum Ausnüchtern und erneutem Entnüchtern am Nachmittag, wie auch eine Kontaktzone für neugierige Leipziger. Für zehn Euro konnten wir eintreten und neben verschiedenen Feuershows bekanntere und unbekanntere Bands auf zwei Bühnen anhören. Mittelalterliche Musik war auf der Hauptbühne indes selten. Glücklicherweise blieb man zumindest bis zum Eingang von diesem furchtbaren Mittelaltermarkt-Sprech verschont. Keine zehn Meter später war es dann leider so weit: „Oh gnädige Dame, seid ihr vom dominanten Schlage? Wollt ihr nicht für nur drei Silberlinge dies´ gar wunderbare Peitsche an jener Maid in diesem Ecke da ausprobieren?“ Ernsthaft?
Die Leipziger Besucher fallen in der Masse nicht wirklich auf, höchstens durch penetrantes Fotografieren. Die von manchem Kritiker im WGT-Forum belächelten Versuche von Eingeborenen, sich szenegerecht zu kleiden, fielen mir zumindest im allgemeinen schwarzen Karneval nicht negativ auf. Da gab es optisch durchaus Verstörenderes unter den regulären WGT-Gästen zu beobachten. Überhaupt ist diese Mischung aus WGT-Besuchern, lokalen LARP- und Mittelalterfans, Methorn-schwingenden Metallern, interessierten Leipziger Familien und WGT-Emeriten ein spannendes wie schräges Gemisch. Ein amüsantes Detail war eine Fotokulisse, die wohl eine mystische Steinformation darstellen sollte und vornehmlich von Treffen-Besuchern frequentiert wurde. Passenderweise stand diese direkt neben den Dixie-Klos.
Sie ist mein Model und du siehst schlecht aus
Widmen wir uns kurz noch einmal den Fotografen. Mir kam es so vor, dass es Jahr für Jahr mehr sabbernde Herren gibt, die mit Teleobjektiv bewaffnet Festival-Besucher ablichten und immer rücksichtsloser vorgehen. Interessant ist, wie sehr man darum bemüht ist, das WGT zur Freakshow zu stilisieren. Klar, Show, die Freude an der Selbstinszenierung gehört beim WGT schon immer dazu und das ist auch gut so. Nur ist man mittlerweile so dreist, weniger auffällige Szenegänger aus dem Bild zu drängen, als hätte man alleinige Verfügungsgewalt über die unfreiwilligen Models. Das führte zu einigen unangenehmen Szenen. Der Standard-Festival-Besucher findet in den Medien nicht statt. Überraschend ist das nicht, lässt aber fragen, welches Bild der Szene hier konstruiert wird und welche Rückwirkungen das auf den oft belächelten „Nachwuchs“ zeigt.
2014, here I come
Grundsätzlich kam es mir 2013 etwas leerer vor als in den letzten Jahren. Der am Ende des Treffens von den Veranstaltern vermeldete Besucherrekord von 21.000 Personen überraschte mich dann doch. Ja, man kann Pfingsten in Leipzig bestens verbringen ohne WGT-Ticket. Als langjähriger Festival-Besucher muss ich aber gestehen, dass ich 2014 das Treffen wieder regulär besuchen werde. Gerade auch, weil ich dieses Jahr so viele bekannte Gesichter schmerzlich vermisst habe, die ich sonst nur noch in Leipzig zu Gesicht bekomme. Gleichwohl hatte ich endlich die Gelegenheit, ein bisschen mehr von Leipzig jenseits der ausgetretenen WGT-Pfade kennenzulernen. Es ist schlichtweg erstaunlich, welchen Wandel die Stadt seit meinem ersten Besuch 2006 durchgemacht hat und weiterhin erlebt.
P.S.: Die Reise mit Fernbussen ist sehr zu empfehlen. Für die Rückfahrt am Montagmorgen haben wir lediglich 15 Euro pro Person gezahlt.
(Andreas Plöger / Foto: Dariya Kaganova)
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