„Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“: ein Bild von Goya, bei dem sich die Forscher angeblich nicht sicher sind, ob Goya meinte, dass die Vernunft (hier als Schlaf) Ungeheuer (hier böse Träume) gebiert, oder ob Ungeheuer entstehen, wenn die Vernunft schläft. Wie viel Schlaf Dirk Serries (Microphonics, 3 Seconds Of Air) und Jon Attwood (Yellow6) ihrer Vernunft zugestanden haben als sie dieses Monumentalwerk angegangen sind, ist nicht überliefert: 3xLP, eine einseitige live-LP von der Tonefloat Labelnacht 2011 und eine CD mit Ausschnitten aus den Vinyl-Platten; nicht zuletzt das Label hat hier wieder einmal Ungeheuerliches geleistet, um etwas Einmaliges zu schaffen.
Wie schon bei dem „Akhet“ Projekt von Dirk Serries, Paul Van Den Berg und Marc Verhaeghen (Klinik) in einem weißen Cover, aber keinesfalls so unschuldig, wie diese Gestaltung es möglicherweise ausdrücken könnte: den Hauptbestandteil der wie ein im Erstarren begriffenes Medium unbekannter Herkunft wirkenden Stücke bilden zunächst meist zwei Gitarren; zwei Gitarren, die soundlich und in ihrer Setzung im Raum deutliche Eckpunkte innerhalb des Gerüsts setzen und die Struktur für alles weitere vorgeben: quasi unmerkliche Änderungen, die den langsamst windenden Strudel der Ereignisse dicker werden lassen oder auch manchmal nur seine Bahn beeinflussen. Wie ein Stein in einem Bach oder in eine vom Wind getriebene Pfütze gefallene Zweige. Plus in dem ein oder anderen Fall ein paar zusätzliche Schichten, ganz hinten, an der Grenze der Hörbarkeit. The Sleep Of Reason umschleichen die Hörer dabei auf eine Art, die offene Türen vorgaukelt ohne die dahinter liegenden Gespinste aus Netzen zu offenbaren; ein geradezu einladend wirkendes Labyrinth, zur Erkundung freigegeben, dessen Mauern und Gänge sich hinter den Besuchern verschieben und den Rückweg unmöglich machen. Vieles, was hier innerhalb eines Stückes zunächst ähnlich klingt, als geloopte Wiederholung wahrgenommen wird, sind in Wirklichkeit durch solcherart von Verschiebungen subtil veränderte Elemente oder durch das Verschmelzen von geloopten und frei gespielten Gitarren ergebende „Veränderungen“, die in erster Linie allein im Kopf der Hörer existieren. Und einige der Stücke beginnen auch noch auf eine fast lässige, beiläufige Art, mit sich ruhig umspielenden Schichten; die von, wie angelockt durch die eigenen Echos, irgendwoher aus den Tiefen auftauchenden Inkarnationen anderer Stimmungen bedrängt werden, die dann sogar, von Zeit zu Zeit, unmerklich das Kommando übernehmen können.
Wie fast immer bei Kollaborationen hängt die Frage im Raum, wer von den Protagonisten für welche Teile eines Stücks zuständig gewesen sein mag; und zweifellos sind innerhalb der Stücke Motive erkennbar, die eine Identifikation nahelegen: durch den Sound, mehr noch durch die Spielweise; im Ganzen ist „The Sleep Of Reason“ jedoch weit mehr als das Austauschen von ein paar Gitarrentakes und ein bisschen Endmix; es scheint, als ob sowohl Dirk Serries als auch Jon Attwood ihre jeweils eigene Herangehensweise unter das gemeinsame Ziel gestellt haben; innerhalb des Kosmos beider also ein eigenständiges Werk, mit tausend Fäden zu den persönlichen Wurzeln. Heißt: völlig egal, wer von beiden für was zuständig war; in der Summe ist dies ein Album, das mit seinem manchmal fast körnigen Sounds und dem Verzicht auf reine Flächenschichtung seine eigenen Wege geht. Heißt: Sehr empfohlen.
PS: Eine Deutung aus anderer Quelle, auch nicht ganz unpassend (in diesem Zusammenhang): „die Phantasie, verlassen von der Vernunft, erzeugt unmögliche Ungeheuer; vereint mit ihr ist sie die Mutter der Künste und Ursprung der Wunder.”
(N)
Format: 4LP+CD |
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