Die Band THE HIRSCH EFFEKT sind immer noch völlig größenwahnsinnig. Indiz 1: wo so manch eine Band bereits mit einem Produzenten verzweifelt, holen sich die drei Hannoveraner einfach mal derer zwei an Bord. Indiz 2: meine grobe Zählung der Gastmusiker auf ihrem aktuellen zweiten Album belief sich auf 32 – inklusive Orchester und Chor. Indiz 3: sie bezeichnen ihren Stil selbst als Experimental-Post-Metal-Punk-Epic-What-Ever-Core. Indiz 4: sie liegen damit sogar gar nicht so falsch.
Ob THE HIRSCH EFFEKT mit der wirklich lächerlich hohen Gastmusikeranzahl sowie den zwei Aufnahmeleitern, ihr Debütalbum zu übertreffen versuchten, bleibt allein ihr Geheimnis. Andererseits liegt die Vermutung natürlich nahe, dass die Band krampfhaft versuchen würde, das vor zwei Jahren erschienene „Holon: Hiberno“ noch zu toppen. Alles andere als eine leichte Aufgabe, da ihnen vor zwei Jahren eine der seltsamsten und bemerkenswertesten Veröffentlichungen gelang – ihre Musik wurde viel diskutiert, heiß geliebt und genau so leidenschaftlich kritisiert. Auf „Holon: Anamnesis“ klingt jedoch absolut nichts nach Krampf. Im Gegenteil. Das Album ist groß, irre, überwältigend, wunderschön, erschreckend beängstigend, noch drei bis vier Spuren erstaunlicher, als das Debüt, und all das nicht selten sogar gleichzeitig. Der Größenwahn fruchtete also – Experiment gelungen.
Und obwohl der Sound immer noch zwischen Indie-Pop der Marke BLUMFELD und heiseren Post-Hardcore-Kreischattacken à la THE FALL OF TROY pendelt, sind die Zwischentöne ausdrucksvoller geworden, und wesentlich besser gelungen. So hetzt einen das Album bereits in den ersten drei Tracks von Stockhausener Klassik zu deutschsprachiger Indie-Popmusik zu dem Post-Hardcore mit Kreischgesang zu Salsa-Gitarrensoli zu Postrock zu Technical Death Metal. Puh! Mit der Tatsache, dass dieser bunte Mischmasch überhaupt gar nicht zusammen gestückelt klingt, beweist die Band abermals, was für großartige Musiker in ihnen stecken.
Wahrscheinlich der wichtigste Punkt von allen, ist jedoch, dass „Holon: Anamnesis“ ein von vorne bis hinten perfekt durchdachtes Konzeptalbum darstellt, welches man am besten – alle 66 Minuten – am Stück genießen sollte. Das ist zwar selten fröhlich, nahezu immer anstrengend, jedoch als Gesamtkunstwerk absolut umwerfend und fesselnd. Und mit ziemlicher Sicherheit wird es dieses Jahr keinen vergleichbaren Tonträger mehr geben, der dermaßen clever Stile einer ganzen Plattensammlung so kohärent verbindet.
(Fabian Broicher)
Format: CD/2LP |
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