JOHN CAGE – Etudes Australes (CD-Box)

Immer wieder haben Komponisten versucht, den Sternenhimmel in Musik umzuformen, die Sphärenklänge tatsächlich hörbar zu machen. Genannt seien hier nur die achte Symphonie von Gustav Mahler, die Planeten von Gustav Holst, die Parkmusik Sternenklang von Karlheinz Stockhausen oder George Crumbs Makrokosmos 1 & 2. Nach dem 1962 vollendeten Klavierkonzert Atlas Eclipticalis machte sich John Cage 1974 auf seine ganz eigene Art abermals an eine Vertonung des Himmels. Aus einem Himmelsatlas der südlichen Hemisphäre wählte Cage nach dem Zufallsprinzip, unter Zuhilfenahme des chinesischen Orakelbuchs I Ging, Sterne und Planeten aus, die er dann als Tonhöhen auf Transparentpapier übertrug.

So entstand die höchst komplexe Partitur der Etudes Australes, die aus viermal acht Klavierstücken besteht. Cage schrieb jede Etüde für zwei Hände, sowohl die linke wie die rechte Hand spielt ihren eigenen Part, der sich jeweils über die gesamte Tastatur erstreckt. So kommt es, dass die Hände sich beim Spielen permanent überkreuzen, was dem Ausführenden eine erhebliche Virtuosität abverlangt. Mit einer derart schwierigen Komposition verband Cage die utopische Hoffnung, dass der Solist, der sich einem nahezu unaufführbaren Werk stellt, zum Vorbild wird für den Zuhörer, sich seinerseits schier unlösbaren gesellschaftlichen Problemen zu stellen und im sozialen Raum nach den Sternen zu greifen.

Nun hat die Münchener Pianistin Sabine Liebner die Etudes Australes neu eingespielt, wobei sie regen Gebrauch macht von der Freiheit, die der Partitur eingeschrieben ist. Liebner, deren Repertoire neben John Cage auch Werke von Morton Feldman, George Crumb und anderen Komponisten der 20. Jahrhunderts umfasst, lässt sich für ihre Interpretation viel Zeit. Dauert etwa die Aufnahme der legendären Grete Sultan knappe drei Stunden, benötigt Liebner über vier Stunden. So schafft sie einen Rahmen, in dem die Musik sich ebenso entfalten kann wie Momente der Stille. Jede angeschlagene und verklingende Note entspricht einem Stern, der aufleuchtet, um irgendwann zu erlöschen, die Stille zwischen den Klängen wird zur Leere zwischen den Himmelskörpern, die Intensität, mit der eine Note gespielt wird entspricht der Helligkeit des Sterns, den sie repräsentiert: in der Musik fallen Welt-Raum und Zeit zusammen. Die dem Zufallsprinzip geschuldeten Sprünge der Tonhöhen gleichen dem Beobachterblick, der über den Nachthimmel gleitet, ohne System von Stern zu springend, den Kopf mal nach links, mal nach rechts drehend, erst nur auf die hellsten Sterne fokussiert, um dann, wenn die Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt haben, auch weniger helle Objekte zu fixieren. Mit ihrer Interpretation vermag es Sabine Liebner auf beeindruckende Weise, eine meditative Atmosphäre zu erzeugen und so wird die musikalische Erschließung des Outer Space zugleich eine Reise in den Inner Space des Bewusstseins. Gleichzeitig legt die Pianistin die eigenwillige Schönheit und  klangliche Vielfalt der Cage’schen Komposition frei.

Die Etudes Australes sind keine Musik für den konventionellen Konzertsaal,  sie gehören in ein Planetarium oder besser direkt unter den Sternenhimmel; hinausgetragen in eine wolkenlose Nacht wird Cages Klavierzyklus zu einer Musik, die beim Hören sehend macht.

(M. Boss)

Format: CD-Box
Vertrieb: WERGO
 

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